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150 Jahre Flächentarifvertrag

RVaktuell 2/2023

Kollektiv statt individuell: Flächentarifverträge regeln Lohn und weitere Arbeitsbedingungen für Millionen Beschäftigte in Deutschland. Vor 150 Jahren waren Buchdrucker in Leipzig ihrer Zeit weit voraus.

Flächentarifverträge sind in Deutschland schon häufiger totgesagt worden. Zu starr schien der von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gesetzte Rahmen zu Arbeitsbedingungen und Lohnerhöhungen, der für ganz unterschiedliche Unternehmen und Millionen Beschäftigte passen sollte. Doch auch 150 Jahre nach Abschluss des ersten Flächentarifvertrags für Buchdrucker am 9.5.1873 in Leipzig haben die Abkommen eine Zukunft – meinen jedenfalls die Protagonisten und die sie begleitenden Wissenschaftler. Auch bei EU-Kommission und Bundesregierung steht die Tarifbindung wieder hoch im Kurs.

„Für den Flächentarifvertrag sprechen nach wie vor klare Vorteile – vor allem Frieden und Ordnung in den Betrieben“, sagt etwa Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger, der in seiner früheren Funktion als Gesamtmetall-Chef regelmäßig am größten Tarifvertrag der Welt für die deutsche Metall- und Elektroindustrie mit rund vier Millionen Beschäftigten mitgearbeitet hat. Stefan Körzell, Vorstandsmitglied beim DGB, weist auf die Folgen einheitlicher Wettbewerbsbedingungen hin: „Unternehmen stehen dann in einem qualitativen Wettbewerb: Dem Versuch, kurzfristige Kostenvorteile durch Lohndumping zu erreichen, wird von Anfang an ein Riegel vorgeschoben.“

30 Pfennige für 1 000 gesetzte Buchstaben, ein Wochenmindestlohn von 19,80 Mark, eine tägliche Arbeitszeit von höchstens zehn Stunden mit zwei bezahlten viertelstündlichen Pausen – das waren die wichtigsten Forderungen, mit denen der deutsche Buchdruckerverband im Januar 1873 in den Arbeitskampf zog, wie ver.di-Historiker Hartmut Simon berichtet. Gut 400 Setzer und Maschinenmeister legten in Leipzig die Arbeit mit Kündigungen nieder, worauf die Druckereien mit einer reichsweiten Aussperrung antworteten, die aber schnell bröckelte. Es folgten eine Haftstrafe für den gewerkschaftlichen Anführer Richard Härtel und schließlich doch noch Verhandlungen, die in einem ersten „Delegiertentarif“ mündeten. Dieser enthielt zwar die wesentlichen Forderungen der Drucker, wurde aber in den wirtschaftlich schwierigen Folgejahren nur zögerlich umgesetzt.

Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke ist stolz auf den historischen Erfolg der Vorläuferorganisation seiner Gewerkschaft: „Nicht der Kollege oder die Kollegin, mit dem oder der ich in Konkurrenz um billige Arbeit stehe, ist der Gegner, sondern der Arbeitgeber. Ich muss mich mit anderen zusammenschließen und gemeinsam und solidarisch bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Das war der Beginn der gewerkschaftlichen Erfolgsgeschichte.“

Zum „Herzstück kollektiver Arbeitsbeziehungen“ wurden die Tarifverhandlungen indes erst im November 1918 mit dem „Stinnes-Legien-Abkommen“, in dem die Arbeitgeberverbände zu Beginn der Weimarer Republik erstmals die Gewerkschaften offiziell als Verhandlungspartner anerkannten. Was zunächst die Gefahr einer kommunistischen Revolution eingrenzte, wurde in den späteren Jahren der Republik allmählich ausgehebelt und im NS-Regime ganz wieder abgeschafft. Erst im Grundgesetz der Bundesrepublik gab es wieder eine feste Verankerung für frei ausgehandelte Tarife durch die Koalitionsfreiheit.

Aussperrungen sind selten geworden, die Themen der Tarifkonflikte haben sich hingegen kaum geändert. Immer geht es um mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen. Statt der 60 Wochenstunden der Leipziger Buchdrucker nimmt die IG Metall aktuell die 32 Stunden ins Visier, die auch auf vier statt sechs Arbeitstage wie 1873 verteilt werden könnten. Tarifbindung bringt für die Arbeitnehmer deutliche Vorteile, sagt die gewerkschaftliche Böckler-Stiftung: „Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben arbeiten im Mittel wöchentlich 54 Minuten länger und verdienen trotzdem elf Prozent weniger als Beschäftigte in Betrieben mit Tarifbindung.“

Die Unternehmen achten naturgemäß stärker auf Kosten und Produktivität. In den vergangenen Jahren konnten sie oft Öffnungsklauseln durchsetzen für Betriebe, die in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckten. Den Gewerkschaften sauer aufgestoßen ist die Öffnung der Arbeitgeberverbände für Mitglieder „ohne Tarifbindung“ (OT). Diese hätten zu einer „inneren Erosion der Tarifbindung“ geführt, meint der frühere Böckler-Wissenschaftler Reinhard Bispinck. Es sei nicht akzeptabel, in Sonntagsreden die Tarifautonomie zu loben und werktags Unternehmen mit OT-Mitgliedschaften zu ködern.

Tatsächlich ist nur etwa jeder vierte Betrieb an einen Haus- oder Flächentarifvertrag gebunden, wie das IAB-Betriebspanel zeigt. Jedoch orientieren sich viele Betriebe freiwillig an dem Vertragswerk ihrer Branche. „Flächentarifverträge gelten als Referenzgröße und setzen gerade in Zeiten des Arbeits- und Fachkräftemangels bei Löhnen und Arbeitszeiten wichtige Standards“, erläutert der Tarifexperte des arbeitgebernahen Instituts der Wirtschaft, Hagen Lesch. Er kann sich künftige Flächentarife auch in Module aufgeteilt vorstellen, aus denen insbesondere kleine Betriebe dann auswählen könnten. Diese Idee wird allerdings bei den Gewerkschaften skeptisch gesehen.

Die Vielfalt der beim BMAS gesammelten Tarifwerke ist beeindruckend. Dort sind nach Angaben von Thorsten Schulten von der Böckler-Stiftung fast 10 000 Vergütungstarifverträge hinterlegt, knapp 2 400 sind von Verbänden abgeschlossene Flächentarifwerke.

Die Ampel-Koalition will auch auf Druck der Europäischen Union (EU) die Tarifbindung in Deutschland, die bei rd. 52 % der Beschäftigten stagniert, steigern. Das soll u.a. gelingen, indem öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen gegeben werden. Auch sollen Tarifverträge leichter als allgemein verbindlich erklärt werden können. Nach Ansicht des Böckler-Experten Schulten reicht das aber nicht. „Das von der EU-Kommission ausgerufene Ziel einer 80-prozentigen Tarifbindung ist nur mit Flächentarifverträgen zu erreichen.“

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