RVaktuell - Fachzeitschrift und amtliche Mitteilungen
RVaktuell - Fachzeitschrift und amtliche Mitteilungen der Deutschen Rentenversicherung

Abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Altersrente: Theorie (und Praxis?)

RVaktuell 3/2023
Wer derzeit vor Erreichen der Regelaltersgrenze in Rente gehen möchte, muss in den meisten Fällen Abschläge in Kauf nehmen. Die Abschläge fließen über den Zugangsfaktor (§77 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI) in die Berechnung der monatlichen Rente ein und sind für einige Rentenarten relevant. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die verschiedenen Ansätze zur Berechnung der Abschläge und versucht diese zu kontextualisieren und zu bewerten.
Dr. Mehran Seyed Hosseini ist Mitarbeiter im Dezernat Entwicklungsfragen der Sozialen Sicherheit und Altersvorsorge in der Abteilung Forschung und Entwicklung der Deutschen Rentenversicherung Bund

1.       Einführung

In diesem Beitrag geht es vor allem um die Altersrente für langjährig Versicherte (§ 36 SGB VI): Personen, die die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben, können diese Rente nach Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch nehmen. Die monatliche Rente berechnet sich in diesem Fall aus der Multiplikation der Entgeltpunkte mit dem aktuellen Rentenwert und mit dem Zugangsfaktor.  Der Zugangsfaktor ist 1, wenn die Rente mit Erreichen der Regelaltersgrenze in Anspruch genommen wird, und vermindert sich für jeden Kalendermonat der vorzeitigen Inanspruchnahme um 0,003. Wird die Rente nach Erreichen der Regelaltersgrenze in Anspruch genommen, erhöht sich der Zugangsfaktor für jeden Kalendermonat der nachzeitigen Inanspruchnahme um 0,005.

Über die richtige Höhe der Abschläge und die damit zu erreichenden Ziele wird in Deutschland in Politik, Wissenschaft und Medien immer wieder diskutiert. Das ist u.a. auf die relativ bedeutende Inanspruchnahme der Frühverrentungsmöglichkeiten und die damit verbundenen finanziellen Auswirkungen der Abschläge zurückzuführen. In diesem Beitrag sollen u.a. die in der Diskussion wenig beachteten Aspekte verdeutlicht werden.

Das Hauptziel des Artikels besteht darin, die verschiedenen Vorschläge zur Berechnung der Abschläge zu erläutern und zu bewerten. Die Vorschläge, die in der jüngeren Vergangenheit gemacht wurden, können in zwei Gruppen eingeteilt werden. Die eine Gruppe besteht aus anreizorientierten Vorschlägen, die sich auf den Einfluss der Abschläge auf das Renteneintrittsverhalten der Individuen konzentrieren. Sie lassen sich im Rahmen der diskontierten Nutzentheorie leicht interpretieren und bewerten. Darüber hinaus sind auch die Grenzen dieser Ansätze relativ transparent. In einem späteren Abschnitt werden einige anreizorientierte Ansätze problematisiert und neue Überlegungen dazu vorgestellt. Die zweite Gruppe besteht aus budgetorientierten Vorschlägen, die sich auf die (Neutralisierung der) Auswirkungen der Frühverrentung auf die Finanzen der Rentenversicherung (RV) konzentrieren. Hier wurden die angestrebten Ziele in der Literatur nicht immer klar formuliert. Zudem wurden die entsprechenden Berechnungsmethoden bis auf wenige Ausnahmen 1 1 S. Knell, „Actuarial Deductions for Early Retirement“, Journal of Demographic Economics 87, Nr. 2 (Juni 2021): 141–67, https://doi.org/10.1017/dem.2020.17; Salthammer, „Berechnung von versicherungsmathematischen Abschlägen bei vorzeitigem Rentenbezug im Umlageverfahren“, DRV, 58, Nr. 10 (2003): 613–19. heuristisch und in Analogie zu privaten Versicherungen begründet. Der Beitrag wird sich daher mit der Präzisierung der formulierten Ziele befassen und zeigen, dass unter relativ restriktiven Annahmen die Anwendung der vorgeschlagenen Berechnungsmethoden (mit leichten Modifikationen) nachvollziehbar ist. 2 2 Die etwas technische Herleitung der Ergebnisse wird in einem weiteren Beitrag veröffentlicht. . Dabei werden einige Ergebnisse aus Knell (vgl. Fn. 1) aufgegriffen und erweitert.

Im Folgenden wird auch anhand der Überlegungen zur Berechnung der Abschläge und Kosten der Frühverrentung aus den siebziger und achtziger Jahren gezeigt, wie sich die budgetorientierten Ansätze im Laufe der Zeit verändert haben.

Ein weiterer Schwerpunkt dieses Beitrags ist die Untersuchung der Auswirkungen von Regelungen zur Weiterarbeit nach vorzeitigem Renteneintritt auf die Berechnung von Abschlägen sowohl aus einer Anreiz- als auch aus einer Budgetperspektive. Diese Überlegungen könnten in Zukunft aufgrund der Anhebung der Hinzuverdienstgrenzen während der COVID 19-Pandemie und ihrer vollständigen Abschaffung ab Januar 2023 von erheblicher Relevanz sein.

Der vorliegende Beitrag ist wie folgt gegliedert: Unter 2. erfolgt ein kurzer (und sicher unvollständiger) Überblick über die Geschichte der Flexibilisierung der Altersgrenze und die Diskussionen über ihre Kosten und die Einführung versicherungsmathematischer Abschläge. In Abschn. 3 werden drei Ziele, die theoretisch durch die Einführung von Abschlägen erreicht werden könnten, diskutiert. Unter 4. folgen Vorschläge (hauptsächlich aus der Literatur) zur Berechnung der Abschläge, die erforderlich sind, um die unter 3. genannten Ziele zu erreichen. Die Ergebnisse der exemplarischen Anwendung einiger der Vorschläge zur Berechnung der Abschläge werden in Abschn. 5 dargestellt. In Abschn. 6 wird versucht, mit einfachen Modellen zu bestimmen, ob und wann die budgetorientierten Vorschläge aus Abschn. 4 für die Erreichung der gewünschten Ziele von Nutzen sein können. Die Zusammenfassung der Ergebnisse folgt unter 7.

2.  Eine kurze Geschichte der vorzeitigen Verrentungen und der Abschläge

Da die Auswertung der vorhandenen Literatur zur Berechnung von Abschlägen und Kosten der Flexibilisierung der Altersgrenze ohne historische Kontextualisierung irreführend sein kann, hier ein kurzer Abriss der Entwicklung der Regelungen zur vorzeitigen Verrentung in Deutschland, der sich vor allem an den Darstellungen von Schmähl 3 3 Schmähl, Alterssicherungspolitik in Deutschland: Vorgeschichte und Entwicklung von 1945 bis 1998 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2018). und Mierzejewski 4 4 Mierzejewski, A history of the German public pension system: continuity amid change (Lanham: Lexington Books, 2016). orientiert.

Seit der Rentenreform von 1957 bestand für Frauen und Arbeitslose unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, die Altersrente bereits mit 60 Jahren (statt mit 65 Jahren) in Anspruch zu nehmen 5 5 Für Angestellte bestand seit 1929 die Möglichkeit bei Arbeitslosigkeit ihre Rente bereits mit 60 Jahren in Anspruch zu nehmen, vgl. Mierzejewski, a.a.o., S. 76 . Der Wunsch nach einer generellen Herabsetzung oder Flexibilisierung der Altersgrenzen war in den sechziger Jahren populär. Konkrete Vorschläge hierzu wurden von den Gewerkschaften und der SPD 6 6 Vgl. SPD, Hrsg., Die Volksversicherung, 1965: S. 9-11. formuliert 7 7 Vgl. Mierzejewski, a.a.O.: S. 209; Schmähl, a.a.O.: S. 485. . In der 5. Legislaturperiode, die von Fragen des Bundeshaushalts dominiert war, wurden diese Vorschläge nicht umgesetzt 8 8 Vgl. Schmähl, a.a.O.: Kap. 6, Abschn. 3. .

U. a. die Finanzsorgen dieser Legislaturperiode gaben Anlass zur Diskussion um eine finanzielle Konsolidierung der RV 9 9 Weitere Auslöser dieser Diskussionen waren die Veränderungen in der Erwerbstätigenstruktur und die bevorstehenden demographischen Entwicklungen, vgl. ebd. . Diese Diskussionen führten 1969 zu einer Neuregelung der Rücklagen der Arbeiter- und Angestelltenversicherung und einer Annäherung der gesetzlichen RV an eine reine Umlagefinanzierung (3. RVÄndG) 10 10 Ebd. . Statt wie in der in 1957 eingeführten Variante des Abschnittsdeckungsverfahrens den Beitragssatz für zehn Jahre so festzusetzen, dass am Ende des zehnjährigen Deckungsabschnitts Rücklagen in Höhe der Ausgaben eines Jahres gewährleistet waren, entschied man sich nunmehr für eine Anpassung des Beitragssatzes, wenn die Rücklagen der RV nach den Vorausberechnungen am Ende von drei aufeinander folgenden Kalenderjahren die Ausgaben zu Lasten der Träger für drei Monate unterschreiten 11 11 S. Gesetz zur Änderung von Vorschriften der gesetzlichen Rentenversicherungen und über die Zwölfte Anpassung der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie über die Anpassung der Geldleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (Drittes Rentenversicherungs-Änderungsgesetz - 3. RVÄndG) vom 28.7.1969 (BGBl. I, S. 956) für die präzise Formulierung. .

Die Ausgangslage und die Annahmen für die Vorausberechnungen zur finanziellen Entwicklung der RV änderten sich jedoch Anfang der siebziger Jahre deutlich. Die Zeit war durch den raschen wirtschaftlichen Aufschwung nach der Rezession Mitte der sechziger Jahre geprägt; man ging von einer sehr positiven längerfristigen Entwicklung aus, was in den Vorausberechnungen einen starken Anstieg der Rücklagen weit über das im 3. RVÄndG vorgeschriebene Niveau hinaus zur Folge hatte. Angesichts dieser Vorausberechnungen und des parteipolitischen Wettbewerbs 12 12 Die Konkurrenz zwischen SPD und CDU führte zu einer gewissen Eskalation der Vorschläge zur Flexibilisierung des Renteneintrittsalters, vgl. Mierzejewski, a.a.O.: S. 209; s.auch Hockerts, Der deutsche Sozialstaat: Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 199 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011): Kap. 6 für eine detaillierte Beschreibung des „Parteienkonkurrenz“ um die Rentenreform 1972. ergab sich ein Umfeld für stärkere Leistungsausweitungen in der RV. Im September 1972 wurde dann die Einführung der Altersrente für langjährig Versicherte beschlossen, die für Versicherte mit 35 Versicherungsjahren einen vorgezogenen Renteneintritt (ohne Abschläge) mit 63 Jahren, also zwei Jahre vor der Regelaltersgrenze, ermöglichte. Da die sozialliberale Koalition seit dem Frühjahr 1972 nicht über die erforderliche Mehrheit verfügte, konnte die CDU die Regelungen zur flexiblen Altersgrenze für kurze Zeit maßgeblich beeinflussen. So wurde gegen den Willen der SPD eine unbegrenzte Weiterbeschäftigung nach vorzeitigem Renteneintritt zugelassen und die Versicherten erhielten sogar Zuschläge, wenn sie die Rente mit 63 nicht in Anspruch nahmen 13 13 Vgl. Schmähl, a.a.O.: Kap. 6, Abschn. 5. . Wenige Monate später, nach der vorgezogenen Bundestagswahl, wurden die Zuschläge für den Rentenbezug zwischen 63 und 65 Jahren abgeschafft und der Hinzuverdienst eingeschränkt 14 14 Ebd. . Aus Sicht der SPD und der Gewerkschaften war die uneingeschränkte Weiterarbeit mit den sozial- und gesundheitspolitischen Zielen der Flexibilisierung des Renteneintrittsalters nicht vereinbar 15 15 Vgl. Lange, Der „Professor“ kleiner Leute - Sozialpolitik mit Kompetenz und Leidenschaft: Ernst Schellenberg (1907 - 1984) zum 100jährigen Geburtstag, Gesprächskreis Geschichte 74 (Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, Historisches Forschungszentrum, 2007): S. 47; Schmähl, a.a.O.: S. 497. . In dieser Zeit gab es unterschiedliche Berechnungen der Kosten der vorzeitigen Verrentungen, sowie Vorschläge für die Einführung versicherungsmathematischer Abschläge 16 16 S. z.B. Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und - gestaltung e.V., „Gutachtliche Stellungnahme zur fleixiblen Altersgrenze“, 1971; Höfer, Abt, Muth, „Was kostet die flexible Altersgrenze mit versicherungsmathematischen Abschlägen und Zuschlägen?“, Betriebs-Berater 27, Nr. 9 (1972): 405–10. . Letzteres wurde jedoch vom Ministerium für Arbeit und Sozialordnung als „systemfremd“ abgelehnt 17 17 Schmähl, a.a.O.: S.502. .

Bereits wenige Jahre nach Einführung der Möglichkeit der vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente für langjährig Versicherte und Schwerbehinderte wurde diese Flexibilisierung der Altersgrenzen insbesondere in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit als willkommenes arbeitsmarktpolitisches Instrument angesehen. Ende der siebziger Jahre wurden Möglichkeiten einer weiteren Flexibilisierung, u.a. durch Herabsetzung der Altersgrenze für die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente, diskutiert 18 18 Vgl. Schmähl, a.a.O.: S. 625, 635-636. . Diese Diskussionen führten u. a. zu einer Herabsetzung der Altersgrenze für die Altersrente für schwerbehinderte Menschen und zu rechtlichen Regelungen, die auf Basis von Vereinbarungen zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt vor dem Beginn der Rente ermöglichten 19 19 Vgl. Mierzejewski, a.a.O.: S. 254. . Anfang der achtziger Jahre wurde aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit sogar eine weitere Herabsetzung der Altersgrenze für die vorzeitige Inanspruchnahme der Rente bis auf 55 Jahre erwogen 20 20 Vgl. Schmähl, a.a.O.: S. 640. . Gleichzeitig wurden aber im politischen Raum auch Forderungen nach Einführung von Abschlägen bei Rentenbeginn vor der Regelaltersgrenze laut 21 21 S. Müller, „Zur Herabsetzung der Altersgrenze“, DRV, 38, Nr. 2–3 (1983): S. 89 und die dort zitierten Quellen. .

Umgesetzt wurden diese Vorschläge jedoch erst mit dem Rentenreformgesetz (RRG) 1992. Darin wurde beschlossen, dass mittelfristig (als Beginn war das Jahr 2001 vorgesehen) die Altersgrenzen der Rentenarten, die einen Rentenzugang vor der Regelaltersgrenze ermöglichten – d.h. die Altersrenten für Frauen, Arbeitslose, Schwerbehinderte und langjährig Versicherte – schrittweise angehoben werden sollten. Ein vorgezogener Rentenbeginn sollte gleichwohl in diesen Rentenarten möglich bleiben, dann aber mit Abschlägen. Später wurde im Rahmen des RRG 1999 die Streichung der Rentenarten „Altersrente für Frauen“ und „Altersrente nach Arbeitslosigkeit“ beschlossen, so dass inzwischen eine vorgezogene Altersrente unter Inkaufnahme von Rentenabschlägen nur noch über die Altersrente für langjährig Versicherte und die Altersrente für Schwerbehinderte möglich ist.

3.      Rechtfertigungen für die Einführung der Abschläge

Die Frage nach der richtigen Höhe der Abschläge sollte immer mit der Festlegung ihres Zwecks einhergehen; die Definition der „richtigen“ Abschläge ist abhängig vom angestrebten Ziel. In diesem Abschnitt werden drei mögliche Zielsetzungen von Abschlägen diskutiert: Kompensation der Mehrkosten in der Einführungsphase der Flexibilisierung der Altersgrenze, mittelfristige Neutralisierung der Beitragssatzwirkung dieser Flexibilisierung und die Neutralisierung möglicher (monetärer) Frühverrentungsanreize 22 22 Ein weiteres Ziel, das in Gasche, „Was sind die richtigen Rentenabschläge? – neue Perspektiven“, Review of Economics 63, Nr. 2 (1.8.2012): 187–235, https://doi.org/10.1515/roe-2012-0205 verfolgt wird, ist das der Renditeneutralität: Die Abschläge sollen sicherstellen, dass die internen Renditen von vorzeitig in Rente gegangenen Personen mit denen von Personen, die ihre Rente zum regulären Renteneintrittsalter beziehen, übereinstimmen. In Abschn.6 wird gezeigt, dass dieses Ziel dem Ziel der Neutralisierung der Beitragssatzwirkungen von vorzeitigen Verrentungen sehr nahekommt und manchmal sogar mit diesem zusammenfällt. . Im Folgenden werden nur umlagefinanzierte Rentensysteme betrachtet.

 

 

 

 

 

 

3.1       Kompensation der zusätzlichen Kosten in der Einführungsphase

Wird in einem gegebenen Rentensystem die Möglichkeit der Frühverrentung erstmals eingeführt oder werden ggf. bestehende Möglichkeiten erweitert, so entstehen dem Rentensystem zunächst unabhängig von der Existenz oder Höhe der Abschläge zusätzliche Kosten: Die Ausgaben steigen, weil einige Kohorten oder Teile von ihnen die Möglichkeit erhalten, früher als bisher zulässig eine Rente zu beziehen. Außerdem sinken die Einnahmen, weil weniger Beiträge gezahlt werden. Bei uneingeschränkter Weiterarbeit könnten die Einnahmen zunächst stabil bleiben 23 23 Wäre der Hinzuverdienst sozialversicherungspflichtig, würden sich jedoch später zusätzliche Kosten durch die zusätzlich erworbenen Rentenansprüche ergeben. .

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit den zusätzlichen Kosten umzugehen:

  • Erhöhung des Beitragssatzes
  • Zusätzliche Steuermittel
  • Aufnahme von Schulden (sofern die rechtlichen Regelungen dies zulassen) 24 24 In Deutschland ist eine Kreditaufnahme durch die Rentenversicherungsträger (RV-Träger) nicht zulässig. Sofern kurzfristig die für die Finanzierung der Leistungen erforderliche Liquidität nicht gesichert ist, ist eine entsprechende Liquiditätshilfe aus dem Bundeshaushalt vorgesehen. Diese Mittel sind als kurzfristiges zinsloses Darlehen zu betrachten, das spätestens bis zum Ende des Folgejahres zurückzuzahlen ist. Um die Rückzahlung zu finanzieren ist ggf. der Beitragssatz anzuheben.
  • Abbau von Rücklagen

In Schmähl 25 25 Schmähl, „Flexible Altersgrenze, Senkung des Rentenniveaus und laufende Rentenzahlungen: Ein Beitrag zur Theorie umlagefinanzierter Rentenversicherungssysteme“, Jahrbuch für Sozialwissenschaft 23, Nr. 1 (1972): 75–87. wird auch die weniger realistische generelle Senkung des Rentenniveaus als Finanzierungsmöglichkeit genannt. Werden zur Finanzierung der Mehrkosten in der Einführungsphase die Beitragssätze erhöht, so kann versucht werden, durch Abschläge die Beitragssätze mittelfristig wieder auf das Niveau zu senken, das für das Rentensystem ohne Frühverrentungsoption zu erwarten wäre. Auf diesen Ansatz wird unter 3.2 näher eingegangen.

Wenn die zusätzlichen Kosten durch die Aufnahme von Schulden gedeckt werden, können die Abschläge zur Tilgung des Kredits verwendet werden. Es ist jedoch zu beachten, dass der üblicherweise verwendete versicherungsmathematische Ansatz zur Berechnung der Abschläge mit Hilfe des Zinssatzes in der Regel nicht zu einer vollständigen Rückzahlung des Kredits führt, wenn immer mehr Kohorten von der Flexibilisierung der Altersgrenze Gebrauch machen (s. dazu im Folgenden). Die Finanzierung von Mehrkosten durch den Abbau von Rücklagen kann als Äquivalent zur Finanzierung durch Schulden angesehen werden, wenn die Rücklagen wieder aufgebaut werden sollen.

Die Wahl der Finanzierungsart und die Entscheidung, ob und in welcher Höhe Abschläge vorgesehen werden, hängt u.a. von den sozialpolitischen Zielen, der finanziellen Situation des Rentensystems und den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab. In den ersten Jahren nach Einführung der Altersrenten für langjährig Versicherte in Deutschland blieb der Beitragssatz konstant und es kam nicht zu dauerhaften Sprüngen bei den Bundeszuschüssen. Die Rücklagen der RV gingen jedoch trotz höherer Zinseinnahmen ab 1975 stark zurück. Es ist daher naheliegend, dass die Frühverrentung in den ersten Jahren u. a. durch den Abbau der Rücklagen finanziert wurde. Zu beachten ist aber auch, dass parallel zur Flexibilisierung der Altersgrenze 1972 weitere Leistungsausweitungen beschlossen wurden.

3.2       Mittelfristige Neutralisierung der Auswirkungen der vorzeitigen Verrentungen auf den Beitragssatz

Unabhängig davon, wie die Flexibilisierung der Altersgrenzen in der Einführungsphase finanziert wird, können Abschläge dazu beitragen zu verhindern, dass die Existenz einer Frühverrentungsoption mittelfristig zu einem zusätzlichen Anstieg des Beitragssatzes führt. Die für dieses Ziel geeigneten Abschläge werden als beitragssatzneutrale Abschläge bezeichnet. Die Bestimmung dieser Abschläge erfordert neben Annahmen zur künftigen Entwicklung des Rentensystems die Festlegung eines kontrafaktischen Referenzszenarios 26 26 Es müssten also Annahmen zur Entwicklung der RV in Abwesenheit von flexiblen Altersgrenzen getroffen werden. . In der folgenden Definition wird implizit ein Referenzszenario gewählt.

Definition:

    • Beitragssatzneutrale Abschläge sollen sicherstellen, dass die Beitragssätze in zwei Rentensystemen mit einer und ohne eine Frühverrentungsoption und mit

      • gleichen Annahmen für Sterblichkeit, Ersatzrate und Lohnanpassung,
      • gleichen Rentenanpassungsregelungen und
      • fixierten Annahmen zum Renteneintrittsverhalten im System mit einer Frühverrentungsoption und zu den Erwerbspersonen und Erwerbsquoten in beiden Systemen

mittelfristig übereinstimmen.

Die notwendigen Abschläge hängen a priori von den getroffenen Annahmen ab. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass für eine beliebige Wahl der Annahmen immer geeignete beitragssatzneutraler Abschläge gefunden werden können. In der Literatur wird der Begriff der Beitragssatzneutralität nicht immer genau definiert. Daneben tauchen Begriffe wie Budgetneutralität oder Belastungsneutralität auf, die zum Teil etwas vage definiert sind. Da in Deutschland die Kosten der Frühverrentung nicht durch Schuldenaufnahme finanziert werden, werden etwaige „Belastungen“ im Wesentlichen über Beitragssatzerhöhungen an die Beitragszahlenden (und über den Beitragssatzfaktor und die Regelungen zur Fortschreibung des Bundeszuschusses an die Rentnerinnen und Rentner bzw. den Bundeshaushalt) weitergegeben 27 27 Auch die Belastung der Nachhaltigkeitsrücklage könnte berücksichtigt werden. Aufgrund der Vorschriften zur Nachhaltigkeitsrücklage (s. §158 SGB VI) führen höhere Belastungen der Nachhaltigkeitsrücklage jedoch schnell zu Beitragssatzerhöhungen. Zusätzlich dürfte wegen des Renteneintritts der geburtenstarken Jahrgänge die Nachhaltigkeitsrücklage in Zukunft tendenziell in der Nähe der Mindestrücklage liegen. . Differenzierungen zwischen Belastungsneutralität und Beitragssatzneutralität wie im Aufsatz von Kroker und Pimpertz 28 28 Kroker, Pimpertz, „Belastungsneutrale Abschläge bei Frühverrentung“, IW-Trends 30, Nr. 4 (25.12.2003), www.iwkoeln.de/studien/belastungsneutrale-abschlaege-bei-fruehverrentung-53990.html. erscheinen daher wenig zielführend, zumal der dortige Vorschlag zur Berechnung belastungsneutraler Abschläge (fast) identisch ist mit den Vorschlägen zur Berechnung beitragssatzneutraler Abschläge.

Ganz analog kann man auch die Beitragssatzneutralität der Zuschläge für nachzeitige Verrentungen definieren. Dieser Beitrag wird sich jedoch nicht intensiv mit Zuschlägen beschäftigen 29 29 S. aber Abschn. 4.3. .

3.3      Anreizneutralität der Renteneintrittsentscheidung

In einem weiteren Ansatz kann versucht werden, die Abschläge so zu wählen, dass von der Rentenberechnungsmethode keine Anreize zur Frühverrentung ausgehen. Es gibt verschiedene Vorschläge, wie anreizneutrale Abschläge zu berechnen sind. Die Grundidee ist jedoch bei allen Vorschlägen gleich und lässt sich im Rahmen der (diskontierten) Nutzentheorie formulieren. Eine Person, die vor der Entscheidung steht, vorzeitig in Rente zu gehen, hat mehrere Optionen: Sie kann z.B. weiterarbeiten, weitere Rentenansprüche erwerben und mit Erreichen der Regelaltersgrenze in Rente gehen. Alternativ kann sie auch vorzeitig in Rente gehen. Hier kann versucht werden, diesen Optionen einen Nutzen zuzuordnen. Theoretisch kann man dann durch die Wahl von Abschlägen dafür sorgen, dass die Optionen, die mit einem vorzeitigen Renteneintritt verbunden sind, keinen höheren Nutzen haben als der Renteneintritt mit Erreichen der Regelaltersgrenze.

Der anreizneutrale Ansatz ist aus mehreren Gründen problematisch: Eine überzeugende Quantifizierung aller Vor- und Nachteile einer Entscheidung ist kaum möglich: Wie soll z.B. der Nutzen, den eine Person aus der gewonnenen Freizeit zieht, quantifiziert werden? Daher beschränken sich die meisten nutzentheoretischen Ansätze auf finanzielle Gewinne und Verluste. Selbst bei einer solchen Beschränkung müsste eine Diskontrate (die sog. individuelle Zeitpräferenzrate) gewählt werden, mit deren Hilfe die Ein- und Auszahlungen zu verschiedenen Zeitpunkten vergleichbar gemacht werden können. Als Approximation für die Zeitpräferenzrate wird in der Literatur häufig der „Kapitalmarktzins“ gewählt. Angesichts der Sensitivität der anreizneutralen Abschläge gegenüber dieser Wahl 30 30 S. Abschn. 4.4 und Appendix A. und der Schwierigkeiten bei der genauen Bestimmung von Zeitpräferenzraten 31 31 S. z.B. Frederick, Loewenstein, O’Donoghue, „Time Discounting and Time Preference: A Critical Review“, Journal of Economic Literature 40, Nr. 2 (Juni 2002): 351–401, https://doi.org/10.1257/002205102320161311: Abschn. 6. In dieser Quelle findet sich auch eine Kritik der diskontierten Nutzentheorie. erscheint dieser Ansatz für eine präzise Bestimmung von Abschlägen nicht geeignet. Trotz dieser Nachteile sollen im Folgenden dieser Ansatz und die in der Literatur vorgeschlagenen Berechnungsmethoden näher untersucht werden. Dabei sollen auch die Auswirkungen des Wegfalls der Hinzuverdienstgrenzen berücksichtigt werden.

4.       Vorschläge zur Berechnung der Abschläge aus der Literatur

In diesem Abschnitt werden Vorschläge (größtenteils aus der Literatur) für die Berechnung von Abschlägen vorgestellt.  Je nach gewünschter Wirkung sind unterschiedliche Abschläge erforderlich.

4.1       Einige Definitionen

Vor der Vorstellung der vorgeschlagenen Berechnungsmethoden, sollen in diesem Unterabschnitt einige Begriffe und Notationen, die im Folgenden immer wieder verwendet werden, gesammelt werden. Betrachtet wird eine Person im Alter A unter der Annahme, dass alle Informationen über die bisherigen Rentenansprüche dieser Person bekannt sind. Außerdem ist der künftige genaue Verdienst dieser Person bekannt, wenn diese weiterarbeitet. Daher können die zusätzlichen Rentenansprüche berechnet werden, die sich aus ihren Beiträgen ergeben. Außerdem wird die Überlebenswahrscheinlichkeit bis zu jedem Alter festgelegt.

Definition:

  • Mit \(\text{R}_{s,t}^{A}\)wird der Erwartungswert des Barwerts aller Rentenzahlungen ohne Berücksichtigung der Entgeltpunkte zwischen dem Alter s und t und unter der Annahme, dass die Rente erst nach dem Alter t in Anspruch genommen wird, bezeichnet.
  • Mit \(\text{B}_{s,t}^{A}\)wird der Erwartungswert des Barwerts der Beiträge, die bei Weiterarbeit zwischen Alter s und t entrichtet werden, bezeichnet.

Diese Definition hängt natürlich von der Wahl der Diskontrate für die Barwertberechnung ab. Alle Barwerte werden zum Zeitpunkt des Erreichens der Regelaltersgrenze berechnet. Für die Ermittlung der Abschläge ist dies jedoch ohne Bedeutung. Für das deutsche Rentensystem lassen sich die Größen \(\text{R}_{s,t}^{A}\) und \(\text{B}_{s,t}^{A}\) mit den folgenden Formeln 1 und 2 berechnen 32 32 Bei Berücksichtigung der Möglichkeit von Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrenten müssten die Formeln modifiziert werden, u.a. im Hinblick auf die kürzlich erfolgten Verlängerungen der Zurechnungszeit. :

Gleichung 1

\(\text{R}_{s,t}^{A} = \sum_{u > t}{(1 + r)^{\frac{\text{RAG} – u}{12}} \cdot\text{EP}_{s}} \cdot \text{RW}_{u} \cdot \text{ZF}_{t} \cdot p_{u|A}\)

Gleichung 2

\(\text{B}_{s,t}^{A} = \sum_{s<u \leq t}{(1 + r)^{\frac{\text{RAG} – u}{12}} \cdot b_{u}} \cdot \text{BE}_{u} \cdot p_{u|A}\)

Wobei r die Diskontrate, RAG die in Monaten ausgedrückte Regelaltersgrenze, \(\text{EP}_{s}\) die bis zum Alter s erworbenen Entgeltpunkte, \(\text{RW}_{u}\) den Rentenwert im Lebensmonat u, \(\text{ZF}_{t}\) den Zugangsfaktor bei erstmaliger Inanspruchnahme der Rente im Alter t, \(b_{u}\) den Beitragssatz im Lebensmonat u, \(\text{BE}_{u}\) das Bruttoeinkommen im Lebensmonat u bei Weiterarbeit und \(p_{u|A}\) die Wahrscheinlichkeit bis zum Alter u zu überleben bedingt auf das Überleben bis zum Alter A bezeichnen.

4.2       Finanzierung in der Einführungsphase

Beispielhaft für die Berechnung der Kosten einer Flexibilisierung der Altersgrenze in der Einführungsphase und die Berechnung von Abschlägen zur Neutralisierung dieser Kosten sind die Aufsätze von Höfer, Abt und Muth 33 33 Höfer, Abt, Muth, 1972, a.a.O. und Müller 34 34 Müller, 1982, a.a.O. S. auch Müller, „Ein Modell zur Berechnung versicherungsmathematischer Abschläge in der gesetzlichen Rentenversicherung“, Blätter der DGVFM 16, Nr. 1 (1. April 1983): 69–96, https://doi.org/10.1007/BF02808740 für eine detaillierte Beschreibung der Berechnungsmethode. . Der erste Aufsatz wurde kurz vor der Rentenreform 1972 verfasst, der zweite im Zusammenhang mit den Überlegungen zu Beginn der achtziger Jahre, die Altersgrenze aus arbeitsmarktpolitischen Gründen weiter zu flexibilisieren und versicherungsmathematische Abschläge einzuführen. Nachfolgend wird der Ansatz dieser Aufsätze zur Bestimmung der Abschläge dargestellt, wobei einige der dort diskutierten Details außer Acht gelassen werden.

Eine Person (oder eine Kohorte), die vorzeitig in Rente geht (und danach nicht weiterarbeitet), verursacht

  • Mehrausgaben und Mindereinnahmen vom Zeitpunkt der Inanspruchnahme bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze und
  • Minderausgaben ab Erreichen der Regelaltersgrenze bis zum Tod (bzw. bis zum Tod einer hinterbliebenen Person) 35 35 Die Minderausgaben entstehen zum Teil wegen der geringeren Ansprüche bei Frühverrentung und wegen der eventuellen Anwendung von Abschlägen. .

Es wird davon ausgegangen, dass die Mehrausgaben und Mindereinnahmen in den ersten Jahren der Inanspruchnahme der vorzeitigen Rente durch einen Vermögensabbau finanziert werden. Dieser Vermögensabbau geht mit einem Verlust an Vermögenserträgen einher. Die versicherungsmathematischen Abschläge sind so zu wählen, dass die Minderausgaben in den Folgejahren und die daraus resultierenden Vermögenserträge genau diese Verluste ausgleichen. Mit anderen Worten: Nach dem Austritt der Person (und der eventuellen Hinterbliebenen) aus der Rente sollte die Rücklage genauso hoch sein, wie sie wäre, wenn die Person mit Erreichen der Regelaltersgrenze in den Ruhestand getreten wäre. Sieht man u.a. von den Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrenten ab, so ergibt sich aus den obigen Überlegungen die Gleichung 3

\(\text{R}_{A,A}^{A} = \text{R}_{\text{RAG},\text{RAG}}^{A} -\text{B}_{A,\text{RAG}}^{A}\)       (Gleichung 3)

 

für die Bestimmung der Abschläge, wobei der Zinssatz der Rücklage als Diskontrate für die Barwertberechnung zu wählen ist. Mit RAG wird die Regelaltersgrenze bezeichnet. Wenn die Weiterarbeit und der Erwerb weiterer Rentenanwartschaften nach einer vorzeitigen Verrentung erlaubt sind und in Anspruch genommen werden, führt das Ziel der Wiederaufbau der Rücklage zu der Gleichung 4
\(\text{R}_{A,A}^{A} = \text{R}_{A,\text{RAG}}^{A}\)      (Gleichung 4)

für die Bestimmung der Abschläge, wobei wieder der Zinssatz der Rücklage als Diskontrate gewählt werden muss.

Eine wichtige Beobachtung ist hier, dass die wie oben berechneten Abschläge theoretisch nur dann zu dem gewünschten Ziel der Kosten- bzw. Belastungsneutralität führen, wenn Frühverrentungen nur für einen begrenzten Zeitraum (z.B. nur für eine begrenzte Anzahl von Kohorten) zugelassen sind und irgendwann wieder abgeschafft werden 36 36 S. Höfer, Abt, Muth, a.a.O.: S. 410, S. Fn. 22; Schmähl, a.a.O. (1972): S. 82; Müller, a.a.O.: S. 122; Knell, a.a.O.: Abschn. 4.3. .

Bei einer Schuldenfinanzierung der Mehrkosten in den ersten Jahren kann analog wie oben verfahren werden. Dies scheint auch der Vorschlag von Werding 37 37 Werding, „Versicherungsmathematisch korrekte Rentenabschläge für die gesetzliche Rentenversicherung“, ifo Schnelldienst 60, Nr. 16 (2007): 19–32. zur „richtigen“ Bestimmung der Abschläge zu sein. Allerdings erscheint die Angemessenheit dieses Vorschlags rd. 35 Jahre nach der Rentenreform von 1972 zweifelhaft, u. a. da Frühverrentungen nicht über Schulden finanziert werden und die Nachhaltigkeitsrücklage der Rentenversicherung für eine Finanzierung durch Rücklagenabbau zu gering ist. Zudem würden, analog zum letzten Absatz, die oben berechneten Abschläge selbst bei einer Schuldenfinanzierung nicht zu einer vollständigen Entschuldung führen.

4.3      Beitragssatzneutrale Abschläge

Im Folgenden wird die Regelaltersgrenze weiterhin mit RAG bezeichnet. Für die Berechnung der „richtigen Abschläge aus Sicht der Rentenversicherung“ werden häufig die folgenden Berechnungsformeln vorgeschlagen:

  • Vorschlag I 38 38 Vgl. Ohsmann, Thiede, Stolz, „Rentenabschläge bei vorgezogenem Rentenbeginn: Welche Abschlagssätze sind ‚richtig‘?“, DAngVers 50, Nr. 4 (2003): 171–79. :     \(\text{R}_{A,A}^{A} = \text{R}_{A,\text{RAG}}^{A}\)   (Gleichung 5)
  • Vorschlag II 39 39 Vgl. z.B. Börsch-Supan, „Faire Abschläge in der gesetzlichen Rentenversicherung“, Sozialer Fortschritt 53, Nr. 10 (2004): 258–61; Gasche, a.a.O. :    \(\text{R}_{A,A}^{A} = \text{R}_{\text{RAG},\text{RAG}}^{A} -\text{B}_{A,\text{RAG}}^{A}\)    (Gleichung 6)

wobei in beiden Vorschlägen die interne Rendite des Rentensystems, approximiert durch die Wachstumsrate des sozialversicherungspflichtigen Einkommens 40 40 S. Samuelson, „An Exact Consumption-Loan Model of Interest with or without the Social Contrivance of Money“, Journal of Political Economy 66, Nr. 6 (Dezember 1958): 467–82, https://doi.org/10.1086/258100; Aaron, „The Social Insurance Paradox“, The Canadian Journal of Economics and Political Science / Revue canadienne d’Economique et de Science politique 32, Nr. 3 (1966): 371–74, https://doi.org/10.2307/139995. , als Diskontrate verwendet wird. Es ist anzumerken, dass Gleichung 5 und Gleichung 6 bis auf die Wahl der Diskontrate mit Gleichung 4 bzw. Gleichung 3 übereinstimmen. Die obigen Vorschläge lassen sich anhand eines Beispiels veranschaulichen: Betrachtet wird eine 63-jährige Person, die bis zu diesem Alter 40 Entgeltpunkte erworben hat. Nach dem ersten Vorschlag sind die Abschläge korrekt, wenn der „Wert” der 40 Entgeltpunkte nicht davon abhängt, ob sie mit 63 Jahren oder erst nach Erreichen der Regelaltersgrenze in Anspruch genommen werden. Nun wird angenommen, dass die Person bei Weiterarbeit bis zur Regelaltersgrenze weitere 5 Entgeltpunkte erwerben würde. Nach dem zweiten Vorschlag sind die Abschläge dann richtig, wenn der „Wert” von 40 Entgeltpunkten, bei einer Rente, die mit 63 Jahren in Anspruch genommen wird, gleich dem „Wert” von 45 Entgeltpunkten ist, bei einer Rente, die erst nach Erreichen der Regelaltersgrenze in Anspruch genommen wird, abzüglich der ab 63 Jahren bis zur Regelaltersgrenze entrichteten Beiträge. Interessant ist, dass der zweite Vorschlag von der unterstellten Erwerbsbiographie abhängt, während der erste Vorschlag davon unabhängig ist.

Um die obigen Vorschläge heuristisch zu begründen, kann man sich die Rentenzahlungen vor Erreichen der Regelaltersgrenze als einen Kredit vorstellen, den der Frührentner oder die Frührentnerin von der RV erhält und den sie durch die Abschläge zurückzahlen muss. Der relevante Zinssatz wäre in diesem Fall die (interne) Verzinsung der Beiträge, die, wie erwähnt, durch die Wachstumsrate des sozialversicherungspflichtigen Einkommens approximiert werden kann 41 41 Vgl. Gasche, „Was sind die richtigen Rentenabschläge?“: S. 207. . Im Abschn. 5 wird versucht, diese Vorschläge mithilfe von Modellrechnungen zu legitimieren. Dort wird auch die Frage beantwortet, für welche Situationen die jeweiligen Vorschläge geeignet sind.

Pimpertz 42 42 Pimpertz, „„Versicherungsmathematisch faire” Abschläge bei vorgezogenem Rentenbezug – eine systematische Betrachtung der Budget-, Belastungs- und Anreizneutralität“, IW-Trends 49, Nr. 4 (2022), www.iwkoeln.de/studien/jochen-pimpertz-versicherungsmathematisch-faire-abschlaege-bei-vorgezogenem-rentenbezug-eine-systematische-betrachtung-der-budget-belastungs-und-anreizneutralitaet.html. verwendet eine andere Methode zur Berechnung „belastungsneutraler Abschläge“: Nach dieser Quelle sind die Abschläge belastungsneutral, wenn

\(\text{R}_{A,A}^{A} = \text{R}_{\text{RAG},\text{RAG}}^{A}.\)   (Gleichung 7)

Dieser Vorschlag ist jedoch weder heuristisch nachvollziehbar, noch findet er in den Modellrechnungen im Abschn. 6 Verwendung. Als Begründung für die Zulässigkeit von Gleichung 7 wird von Pimpertz 43 43 Ebd, S. 96. die Möglichkeit genannt, dass eine Person vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheidet, ohne eine Rente zu beziehen. In diesem Fall würde sie jedoch keine zusätzlichen Rentenanwartschaften erwerben, weshalb Gleichung 5 für diesen Fall geeigneter erscheint. Die Anwendung von Gleichung 7 führt ceteris paribus zu geringeren Abschlägen als die mit Gleichung 5 und 6 berechneten Abschläge 44 44 Ein Grund dafür, dass sich die von Pimpertz. berechneten Abschläge für Frauen nicht wesentlich von den hier in Abschn. 5 berechneten Abschlägen unterscheiden, liegt darin, dass dort Periodensterbetafeln zur Bestimmung der Überlebenswahrscheinlichkeiten benutzt werden, die unter der realistischen Annahme steigender Lebenserwartung im Vergleich zu Kohortensterbetafeln zu einer Überschätzung der Sterblichkeit und damit zu höheren Abschlägen führen. .

Für die Berechnung der Zuschläge aus Sicht der Rentenversicherung wird in der Literatur die folgende Formel vorgeschlagen. Die Zuschläge für nachzeitige Verrentungen im Alter S sind richtig, falls

\(\text{R}_{\text{RAG},\text{RAG}}^{\text{RAG}} = \text{R}_{S,S}^{\text{RAG}} -\text{B}_{\text{RAG},S}^{\text{RAG}},\)   (Gleichung 8)

ist.

Wobei wieder die interne Rendite des Rentensystems (approximiert durch die Wachstumsrate des sozialversicherungspflichtigen Einkommens) als die Diskontrate verwendet wird. In dem Fall, dass die versicherte Person lediglich den Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Rente aufschiebt, ohne nach Erreichen der Regelaltersgrenze weiterzuarbeiten, führen die oben genannten heuristischen Überlegungen zu der Gleichung \(\text{R}_{\text{RAG},\text{RAG}}^{\text{RAG}} = \text{R}_{\text{RAG},S}^{\text{RAG}}\) für die Bestimmung der Zuschläge für die Inanspruchnahme der Rente mit Alter S.

4.4      Anreizneutralität

Als nächstes werden einige relevante Optionen, die einer Person bei der Entscheidung über eine vorzeitige Verrentung zur Verfügung stehen, formuliert und versucht, den Nutzen dieser Optionen zu quantifizieren.

Eine Person im Alter A, die über eine Frühverrentung nachdenkt, hat u.a. folgende Optionen:

  • Option W: Weiterarbeit bis zur Regelaltersgrenze und Verrentung nach Erreichen der Regelaltersgrenze.
  • Option V: Sofortiger (vorzeitiger) Renteneintritt ohne Weiterbeschäftigung.
  • Option VW: Frühverrentung und Weiterarbeit in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis.

Da der Nutzen, den der Einzelne aus einer Frühverrentung zieht, vielfältig und nicht immer quantifizierbar ist, werden im Folgenden nur die Aspekte betrachtet, die sich leicht quantifizieren lassen. Hier bietet sich in erster Linie der monetäre Aspekt an. Darüber hinaus gibt es Versuche, mithilfe einfacher Nutzenfunktionen auch Freizeitpräferenzen in die Betrachtungen einzubeziehen 45 45 S. z.B. Gasche, a.a.O.: Abschn. 6. . Auf Letzteres wird im Folgenden verzichtet. Meist wird davon ausgegangen, dass eine Person die gleiche Geldmenge zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich bewertet. Um die Ein- und Auszahlungen zu verschiedenen Zeitpunkten vergleichbar zu machen, werden sie mit der sog. individuellen Zeitpräferenzrate auf einen bestimmten Zeitpunkt abdiskontiert und ihre Barwerte werden addiert. Wie der Name suggeriert, hängt die individuelle Zeitpräferenzrate von den individuellen Präferenzen ab. Als Approximation wird häufig der Kapitalmarktzins für die Berechnungen verwendet. Hier wird der Nutzen der Optionen W,  V und VW mit U(W),  U(V) bzw.  U(VW) bezeichnet. U(W),  U(V) und U(VW) können dann als Erwartungswert des Barwerts der Nettowerte der Renten und Einkommen nach Wahl der jeweiligen Optionen definiert werden. Es ist zu beachten, dass in den Monaten, in denen die Person sowohl ein Arbeitseinkommen als auch eine Rente bezieht, die Berechnung der Nettowerte des Arbeitseinkommens und der Rente nicht getrennt voneinander erfolgen können und dass die Nettowerte von vielen Faktoren abhängen, wie z. B. der Steuerklasse, dem Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Rente (u.a. wegen der nachgelagerten Besteuerung) und der Existenz und der Höhe anderer Einkommensquellen.  Wie erwähnt, wird hier die individuelle Zeitpräferenzrate für die Barwertberechnung verwendet. Es wird davon ausgegangen, dass das Individuum seinen Nutzen maximieren möchte. Durch anreizneutrale Abschläge soll verhindert werden, dass der Nutzen eines vorzeitigen Renteneintritts größer ist als der Nutzen einer Weiterarbeit bis zur Regelaltersgrenze. In einem System mit Hinzuverdienstgrenzen und eingeschränkten Möglichkeiten der Weiterarbeit spielt die Option VW keine Rolle 46 46 Hier wird von der Möglichkeit einer geringfügigen sozialversicherungsfreien Beschäftigung nach dem vorgezogenen Renteneintritt abstrahiert. . In diesem Fall wäre es sinnvoll, die Abschläge so zu wählen, dass

\(U(V) = U(W)\)   (Gleichung 9)

ist.

Wird die Weiterbeschäftigung nach der vorzeitigen Verrentung uneingeschränkt zugelassen, ist auch die Option VW zu berücksichtigen. Unter realistischen Bedingungen gilt \(U(VW) > U(V)\) 47 47 Diese Aussage wäre i.A. falsch, wenn nicht vom Nutzen der Freizeit abstrahiert würde. . Daher ist es in diesem Fall sinnvoll, die Abschläge so zu wählen, dass

\(U(VW) = U(W)\)  (Gleichung 10)

ist.

Die oben dargestellten Abschläge werden von Gasche 48 48 Gasche, a.a.O. als „nutzenorientierte“ Abschläge bezeichnet. Die Verwendung von Gleichung 10 führt ceteris paribus und unter realistischen Bedingungen zu höheren Abschlägen als die mithilfe von Gleichung 9 berechneten Abschläge, da unter solchen Bedingungen (und ohne Berücksichtigung des Nutzens von Freizeit) \(U(VW) > U(V)\) gilt.

Häufig werden anreizneutrale oder anreizkompatible Abschläge nur unter Berücksichtigung der Transaktionen zwischen einer Person und der RV berechnet 49 49 S. z.B. Börsch-Supan, a.a.O.; Werding, a.a.O.; Gasche, a.a.O. S.Gasch, a.a.O.: S. 190 für eine Begründung. . Der Nutzen der Optionen W, V und VW unter dieser Einschränkung wird mit \(\overset{\sim}{\text{U}}\left( \text{W} \right)\), \(\overset{\sim}{\text{U}}\left( \text{V} \right)\) und \(\overset{\sim}{\text{U}}\left( \text{VW} \right)\) bezeichnet.

Dann gilt

\(\overset{\sim}{\text{U}}\left( \text{W} \right) = \text{R}_{\text{RAG},\text{RAG}}^{A} -\text{B}_{A,\text{RAG}}^{A}\)     (Gleichung 11)

\(\overset{\sim}{\text{U}}\left( \text{V} \right) = \text{R}_{A,A}^{A}\)   (Gleichung 12)

\(\overset{\sim}{\text{U}}\left( \text{VW} \right) = \text{R}_{A,A}^{A} + \left( \text{R}_{\text{RAG},\text{RAG}}^{A} – \text{R}_{A,\text{RAG}}^{A} \right) – \text{B}_{A,\text{RAG}}^{A}\)   (Gleichung 13)

Für den Fall, dass die Weiterarbeit nach der Frühverrentung keine große Rolle spielt, würde man unter der genannten Einschränkung die Abschläge so wählen, dass \(\overset{\sim}{\text{U}}\left( \text{V} \right) = \overset{\sim}{\text{U}}\left( \text{W} \right)\)

und damit

\(\text{R}_{A,A}^{A} = \text{R}_{\text{RAG},\text{RAG}}^{A} – \text{B}_{A,\text{RAG}}^{A}.\)   (Gleichung 14)

ist.

Unter realistischen Annahmen über die Sterblichkeit und die Höhe der aus den entrichteten Beiträgen erworbenen Rentenanwartschaften und bei nicht zu höhen Zeitpräferenzraten gilt \(\left( \text{R}_{\text{RAG},\text{RAG}}^{A} – \text{R}_{A,\text{RAG}}^{A} \right) > \text{B}_{A,\text{RAG}}^{A}\) und damit \(\overset{\sim}{\text{U}}\left( \text{VW} \right) > \overset{\sim}{\text{U}}\left( \text{V} \right)\) 50 50 Hier ist es wieder essenziell, dass vom Nutzen von Freizeit abstrahiert wird. . Daher sollte man, falls Weiterbeschäftigung nach dem vorzeitigen Renteneintritt eine sinnvolle Option darstellt (z. B. bei Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen), die Abschläge so wählen, dass \(\overset{\sim}{\text{U}}\left( \text{VW} \right) = \overset{\sim}{\text{U}}\left( \text{W} \right)\)

und damit

\(\text{R}_{A,A}^{A} = \text{R}_{A,\text{RAG}}^{A}.\)   (Gleichung 15)

Appendix A enthält ein Diagramm, das die Abhängigkeit der mit Gleichung 15 berechneten Abschläge von der gewählten Zeitpräferenzrate verdeutlicht.

5.     Numerische Ergebnisse

In diesem Abschnitt werden die Ergebnisse der exemplarischen Anwendung der Vorschläge aus Abschnitt 4.3 dargestellt, wobei sich die Annahmen grob an den Prognosen und Vorausberechnungen für die gesetzliche RV orientieren und die vorausberechnete Entwicklung der Lebenserwartung in Deutschland verwendet wird. Für die letztere werden die beiden Varianten (V1 und V2) 51 51 Variante 1 und Variante 2 ergeben sich aus einer Fortschreibung der Entwicklung der Sterblichkeit seit 2010 bzw. 1970. Aufgrund der Verlangsamung des Anstiegs der Lebenserwartung seit 2010 wird in Variante 1 ein geringerer Anstieg der Lebenserwartung vorausberechnet. der Kohortensterbetafeln 52 52 Die Anwendung von Periodensterbetafeln wie in Pimpertz, a.a.O., würde, unter der realistischen Annahme steigender Lebenserwartung zu einer Überschätzung der Sterblichkeit und damit zu höheren Abschläge führen. S. auch Fn. 44.   des Statistischen Bundesamts 53 53 Statistisches Bundesamt (Destatis), „Kohortensterbetafeln für Deutschland: Ergebnisse aus den Modellrechnungen für Sterbetafeln nach Geburtsjahrgang 1920-2020“, 29.9.2020, www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/Publikationen/_publikationen-innen-kohortensterbetafel.html. verwendet. Im Folgenden werden nur die Ergebnisse der Berechnungen für durchschnittlich verdienende Frauen dargestellt. Entsprechende Berechnungen der Abschläge für Männer ohne Berücksichtigung der Hinterbliebenenrenten würden aufgrund der geringeren Lebenserwartung der Männer zu höheren Abschlägen führen. Da aber die große Mehrheit der Männer im Alter von 60 bis 70 Jahren verheiratet ist 54 54 Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online, „Fortschreibung des Bevölkerungsstandes“, 2023. und die Mehrheit der verheirateten Männer in gemischtgeschlechtlichen Ehen älter ist als ihre Ehefrauen 55 55 Vgl. „Datenreport 2021: Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland“, 2021: S. 52. , scheint die Berücksichtigung der Hinterbliebenenrenten sinnvoll und würde zu niedrigeren Abschlägen führen.

Berechnet werden die Abschläge für die Kohorte der 1964 geborenen Frauen 56 56 Erste Kohorte für die die Regelaltersgrenze 67 gilt. , die überlegen mit Alter 63 vorzeitig in Rente zu gehen. Dabei wird von jährlichen Lohnanpassungen von 3% 57 57 Es wird hier von der Annahme in Bundesministerium für Arbeit und Soziales, „Rentenversicherungsbericht 2022“, 2022, ausgegangen. und einem fixen Beitragssatz von 20% ausgegangen. Für die Berechnung der Abschläge nach Vorschlag II wird zusätzlich angenommen, das die Personen nach Vollendung des 22. Lebensjahres eine Beschäftigung aufgenommen haben und pro Jahr einen Entgeltpunkt erworben haben. Die Berechnung der Abschläge erfolgt mit zwei Annahmen über die jährlichen Rentenanpassungen. Bei Beibehaltung der bisherigen Rentenanpassungsformel erscheinen unter Berücksichtigung der Dämpfungsfaktoren jährliche Rentenanpassungen von 2,5% angemessen. Würde die Haltelinie für das Rentenniveau entfristet, läge die Rentenanpassung deutlich näher an der Lohnanpassung und damit bei etwa 3%. Weiterhin wird im Jahr 2023 ein durchschnittliches Jahresgehalt von 40 000 EUR angenommen. Die Diskontrate wird mit 2,6% angesetzt, wobei von einer negativen Wachstumsrate der Beitragszahlenden von ca. -0,4% ausgegangen wird. Die berechneten (monatlichen) Abschläge sind in Tabelle 1 dargestellt.

  Vorschlag I
Vorschlag II
Rentenanpassung2,5%3%2,5%3%
Sterbe-
tafel-
variante
V10,34%0,32%0,32%0,29%
V20,32%0,31%0,30%0,27%
Tabelle 1: Abschläge unter Anwendung von Vorschlag I und Vorschlag II

Die Ergebnisse in Tabelle 1 entsprechen in etwa der derzeitigen Höhe der Abschläge.

Bei der Betrachtung einer durchschnittlich verdienenden Frau, die im Jahr 1964 geboren wurde und mit 71 Jahren nachzeitig in Rente gehen möchte, ergeben sich unter den obigen Annahmen für die mit Gleichung 8 berechneten Zuschläge die Ergebnisse in Tabelle 2.

Rentenanpassung2,5%3%
Sterbe-
tafel-
variante
V10,46%0,41%
V20,42%0,38%
Tabelle 2: Zuschläge unter Anwendung von Gleichung 8

Der derzeitige Zuschlag von 0,5% liegt etwas höher als die in Tabelle 2 angegebenen Zuschläge.

6.       Beitragssatzneutralität für einfache Rentenmodelle mit einer Frühverrentungsoption

Hier werden sehr einfache Rentenmodelle im sog. Steady-State 58 58 Hier bedeutet Steady-State genauer, dass die zur Beschreibung der Modelle gewählten Parameter zeitunabhängig sind. betrachtet, die es erlauben, ohne großen Aufwand beitragssatzneutrale Abschläge wie oben definiert, zu ermitteln und zu untersuchen. Aus Gründen der Lesbarkeit wird hier auf die Details der Berechnungen verzichtet. Es ist jedoch geplant, diese zeitnah zu veröffentlichen. Entsprechend den Berechnungen wird hier von stetigen Wachstumsprozessen ausgegangen. Die angegebenen Wachstumsraten sind dementsprechend stetige Wachstumsraten.

6.1       Basismodell

Zuerst wird ein Rentensystem ohne Frühverrentungsoption betrachtet, mit einer Population mit beliebigen, aber unveränderlichen Sterblichkeitsrisiken. Angenommen wird, dass alle Personen, die das Alter C erreicht haben, zu arbeiten beginnen und dass alle den gleichen Lohn erhalten. Alle lebenden Personen arbeiten m Jahre und gehen dann in Rente. Weiterhin wird eine konstante Wachstumsrate α der Population der Geburtsjahrgänge angenommen. Löhne und Renten werden mit der Rate β bzw. γ angepasst. Für die Renten wird eine Ersatzrate ρ festgelegt, d.h., die erste Rente jedes Individuums ergibt sich aus der Multiplikation von ρ mit dem aktuellen Gehalt. Wenn β und γ gleich sind, sind alle Renten durch die Multiplikation von ρ mit dem aktuellen Gehalt gegeben. Sobald dieses Rentensystem reif ist, stabilisiert sich der Beitragssatz und bleibt für immer konstant. S. Appendix B für den genauen Ausdruck des Beitragssatzes.

6.2       Modell mit einer Frühverrentungsoption und ohne Weiterarbeit nach der vorzeitigen Verrentung

Nun wird das bisherige Modell modifiziert, indem die Regelaltersgrenze flexibilisiert wird: Statt m Jahre arbeiten zu müssen, um in Rente gehen zu können, können alle ihr Renteneintrittsalter frei wählen. Hierfür werden beliebige, aber zeitinvariante altersabhängige Renteneintrittswahrscheinlichkeiten angenommen. Für eine Person, die im Alter R in Rente geht, wird die Ersatzrate \(\text{Z}(R)\frac{R – C}{m}\rho\) für einen frei wählbaren Zugangsfaktor Z(R)  festgesetzt. Alle anderen Parameter des Rentensystems werden wie im Basismodell gewählt. Sobald dieses Rentensystem reif ist, stabilisiert sich der Beitragssatz wieder (s. Appendix B für den genauen Ausdruck). Dieser Beitragssatz hängt von der Wahl der Z(R) ab. Für jedes Alter R gibt es genau einen Zugangsfaktor Z(R) so dass der Beitragssatz in diesem Rentensystem dem Beitragssatz im Basismodell entspricht. Für diesen Zugangsfaktor ergibt sich dann folgendes Ergebnis:

Ergebnis:

Die obigen beitragssatzneutralen Zugangsfaktoren erfüllen die Gleichung in Vorschlag II, wobei für die Berechnung von \(\text{B}_{A,\text{RAG}}^{A}\) der Beitragssatz des Modells ohne Frühverrentungsoption verwendet wird und die Diskontrate α + β, also die Wachstumsrate des Gesamteinkommens, ist. Zusätzlich stimmt mit den obigen Zugangsfaktoren die interne Rendite der Frührentnerinnen und Frührentner mit der der Rentnerinnen und Rentner, die zur Regelaltersgrenze ihre Rente in Anspruch nehmen, überein.

U.a. zeigt Knell 59 59 Knell, a.a.O. für den Fall β = γ  und α = 0 ein äquivalentes Ergebnis zu obigem. Salthammer beweist auch die obige Aussage für den gleichen Fall 60 60 Salthammer, a.a.O. und mit einfacheren Annahmen zum Renteneintrittsverhalten der Frührentnerinnen und Frührentner.

6.3       Modell mit einer Frühverrentungsoption und mit Weiterarbeit nach der vorzeitigen Verrentung

Ein weiteres Rentenmodell mit flexiblen Altersgrenzen, in dem aber alle Personen, die vor der Regelaltersgrenze C + m  in Rente gehen, bis zu diesem Alter weiterarbeiten und Rentenansprüche erwerben, die ab diesem Alter zu einer Erhöhung ihrer Rente führen, wird wiederum unter der Annahme beliebiger, aber zeitlich invarianter altersabhängiger Renteneintrittswahrscheinlichkeiten betrachtet. Für eine Person, die ihre Rente im Alter \(R \geq C + m\) in Anspruch nimmt, wird die Ersatzrate \(\text{Z}(R)\frac{R – C}{m}\rho\) für einen frei wählbaren Zugangsfaktor Z(R) festgesetzt. Eine Person, die im Alter \(R \lt C + m\) in Rente geht, erhält zunächst eine Rente mit der Ersatzrate \(\text{Z}(R)\frac{R – C}{m}\rho\). Ab der Regelaltersgrenze erhält sie zusätzlich eine Rente mit der Ersatzrate \(\frac{C + m – R}{C + m}\rho\). Sobald das System reif ist, stabilisiert sich der Beitragssatz wieder (s. Appendix B für den genauen Ausdruck). Wie oben gibt es für jedes Alter R genau einen Zugangsfaktor Z(R), so dass der Beitragssatz in diesem Rentensystem dem Beitragssatz im Basismodell entspricht. Für diesen Zugangsfaktor ergibt sich dann folgendes Ergebnis:

Ergebnis:

Die obigen beitragssatzneutralen Zugangsfaktoren erfüllen die Gleichung in Vorschlag I, wobei die Diskontrate α + β ist, d.h. die Wachstumsrate des Gesamteinkommens. Zusätzlich stimmt mit den obigen Zugangsfaktoren die interne Rendite der Frührentnerinnen und Frührentner mit der der Rentnerinnen und Rentner, die zur Regelaltersgrenze ihre Rente in Anspruch nehmen, überein.

7.       Diskussion der Ergebnisse

Die obigen Ergebnisse zeigen, dass die Vorschläge unter 4.3 für die Berechnung der beitragssatzneutralen Abschläge in den betrachteten einfachen Rentenmodellen verwendet werden können. Vorschlag I des Abschnitts eignet sich für die Bestimmung der Abschläge in dem Modell, in dem alle Personen nach der vorzeitigen Verrentung weiterarbeiten und bis zur Regelaltersgrenze weitere Rentenanwartschaften erwerben. Vorschlag II ist dagegen für die Bestimmung der beitragssatzneutralen Abschläge in dem Modell geeignet, in dem keine Weiterarbeit nach der Frühverrentung erfolgt. Eine interessante Frage ist, inwieweit die mit diesen Vorschlägen berechneten Abschläge zum Ziel der Beitragssatzneutralität beitragen, wenn die sehr restriktiven Annahmen der obigen Modelle nicht erfüllt sind 61 61 Problematisch ist in diesem Fall u.a., dass die interne Rendite von der Wachstumsrate der Lohnsumme abweichen kann, z.B. wenn die Sterbewahrscheinlichkeiten zeitabhängig sind. . Dennoch rechtfertigen diese Ergebnisse bis zu einem gewissen Grad die Verwendung der unter 4.3 vorgestellten Formeln zur Berechnung der Abschläge.

Angesichts der Abschaffung der Hinzuverdienstgrenzen stellt sich die Frage, ob Vorschlag I für die Berechnung der Abschläge im deutschen Rentensystem besser geeignet ist. Diese Frage kann aber erst beantwortet werden, wenn absehbar ist, welche Verhaltensänderungen sich aus der neuen Möglichkeit der uneingeschränkten Weiterarbeit nach vorzeitigem Renteneintritt ergeben. Da es jedoch unwahrscheinlich ist, dass alle Personen, die eine vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen, weiterarbeiten, erscheint die Verwendung von Vorschlag II legitimer. Alternativ kann ein gewichtetes Mittel der nach Vorschlag I und II berechneten Abschläge verwendet werden. Angesichts der Ergebnisse in Abschnitt 5 scheint diese Wahl keine große quantitative Bedeutung zu haben.

 

Es folgen Appendix A und Appendix B:

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