RVaktuell - Fachzeitschrift und amtliche Mitteilungen
RVaktuell - Fachzeitschrift und amtliche Mitteilungen der Deutschen Rentenversicherung
Forschung Veranstaltungen

Aktuelles aus der Forschungswerkstatt des Forschungsnetzwerks Alterssicherung (FNA)

Das Forschungsnetzwerk Alterssicherung (FNA) der Deutschen Rentenversicherung Bund veranstaltet jedes Jahr im Sommer sein zweitägiges Graduiertenkolloquium. Dort haben Stipendiatinnen und Stipendiaten des FNA und andere im Feld der Alterssicherungsforschung Promovierende die Möglichkeit, Teile ihrer Dissertationen zu präsentieren und gemeinsam mit dem fachkundigen Publikum aus Wissenschaft, Politik und Verwaltung zu diskutieren

Für die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist es eine besondere Herausforderung, sich aus den gewohnten Arbeitskontexten innerhalb der eigenen Universität, des Instituts oder der eigenen Disziplin herauszubewegen und ihre vorläufigen Ergebnisse einer diversen Öffentlichkeit allgemeinverständlich nahezubringen. Für das FNA ist es wiederum äußerst spannend, die Fortschritte der Dissertationen über verschiedene Entwicklungsstufen hinweg zu begleiten. Ganz wesentlicher Bestandteil des Graduiertenkolloquiums ist auch die Vernetzung des Nachwuchses untereinander sowie mit Expertinnen und Experten im Feld.

Die diesjährige, für den 13. und 14.8.2020 geplante Veranstaltung musste aufgrund der Corona-Pandemie leider abgesagt werden. Das FNA hofft sehr, dass diese Absage ein einmaliges Ereignis bleibt und arbeitet an einem Konzept für das nächste Graduiertenkolloquium. Um den fachlichen Austausch mit den Stipendiatinnen und Stipendiaten des FNA aktuell dennoch zu gewährleisten, hat sich das FNA für ein gleichermaßen etabliertes wie innovatives Vorgehen entschieden, damit der so wichtige Austausch mit dem Nachwuchs nicht gänzlich entfällt. Das Ergebnis dieses Prozesses wird im vorliegenden Beitrag der „RVaktuell“ der Deutschen Rentenversicherung dokumentiert. Konkret haben wir die drei mit einem FNA-Stipendium Promovierenden – Mara Barschkett (FU Berlin / DIW Berlin), Björn Fischer (FU Berlin / DIW Berlin) und Ansgar Keller (Universität Bielefeld) – gebeten, einen Arbeitsbericht zu verfassen, der den aktuellen Stand ihrer Dissertationsvorhaben bzw. einen spezifischen Teil davon zusammenfasst. Sie erhielten anschließend ein ausführliches und differenziertes Feedback auf diesen Arbeitsbericht, in das sowohl verschiedene Fachebenen der Deutschen Rentenversicherung Bund, als auch weitere einschlägige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einbezogen wurden. Auf diese Weise wurde den Promovierenden insbesondere der spezifische Blick der Rentenversicherung (RV) auf die Forschungsthemen nähergebracht. Die Promovierenden konnten ihrerseits auf das Feedback mit einer Stellungnahme reagieren. Ziel dieser Feedbackschleife sollte ein interaktiver Austausch und damit auch ein erheblicher Mehrwert für beide Seiten sein.

Die Beiträge von Barschkett, Fischer und Keller beschäftigen sich mit sehr unterschiedlichen Themen, wie Gesundheit, Pflege und dem rentenrechtlich vergleichsweise exotischen Phänomen der Rentenneurose. Wir sind überzeugt, dass sich gerade aus dieser Vielfalt auch für die Leserinnen und Leser ein Mehrwert ergibt. So führen die Beiträge deutlich vor Augen, dass Rentenpolitik Wirkungsketten hat, die weit über das in der RV typischerweise verhandelte Feld der Altersabsicherung, hinausreichen. Barschkett, Fischer und Keller belegen jeweils auf ihre ganz eigene Weise, wie institutionelle Regelungen im Rentenrecht zu individuellen Verhaltensanpassungen führen, die nicht intendiert waren und bisweilen sogar erwünschte Reformfolgen konterkarieren. Im Folgenden wollen wir das Ergebnis des Austauschprozesses darlegen und die laufenden Forschungsarbeiten aus Sicht der Rentenversicherung einordnen.

Wie wirkt sich die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf individuelle Gesundheit aus? – Dissertationsvorhaben von Mara Barschkett (FU Berlin / DIW Berlin)

Die Anhebung der Regelaltersgrenze war eine der umstrittensten Maßnahmen im Reformprozess der Alterssicherung der letzten Jahrzehnte. Auch deshalb wurde flankierend zu der ab 2012 geltenden Regelung im sogenannten RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz eine regelmäßige Berichtspflicht darüber eingeführt, ob die Anhebung „unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint und die getroffenen gesetzlichen Regelungen bestehen bleiben können“. Zugleich ist die Frage der gesellschaftlichen und individuellen Folgen auch auf die wissenschaftliche Agenda getreten, so dass mittlerweile eine Vielzahl relevanter Forschungsbefunde im Kontext der Altersgrenzenanhebung – nicht zuletzt auch aus der Forschungsförderung des FNA – vorliegen. Einen weiteren Beitrag in diesem Forschungsfeld liefert Barschkett, die seit Oktober 2019 Stipendiatin des FNA ist. Ihre von Prof. Peter Haan (FU Berlin / DIW Berlin) betreute Dissertation fokussiert mit der Abschaffung der Altersrente für Frauen einen spezifischen Teil dieses Reformprozesses und fragt nach möglichen Auswirkungen der wegfallenden vorzeitigen Verrentungsmöglichkeiten auf den Gesundheitszustand der davon Betroffenen.

Zunächst ist es unklar, ob sich dieser Wegfall positiv oder negativ auf die Gesundheit auswirkt. Ein verlängertes Arbeitsleben kann z.B. dazu führen, dass soziale Kontakte im Arbeitsalltag für eine längere Zeit gepflegt werden. Nach der Verrentung fallen diese Kontakte eventuell weg und es könnte zu Vereinsamung kommen, die sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirkt. Andererseits fällt vielleicht auch arbeitsbedingter Stress weg, sodass die Verrentung die psychische Gesundheit positiv beeinflusst. Auch im Hinblick auf die physische Gesundheit ist der Effekt eines späteren Renteneintritts nicht eindeutig. Im Berufsleben fehlt eventuell die Zeit für sportliche Betätigung. Ein hierdurch bedingter denkbarer negativer Einfluss auf das Herz-Kreislaufsystem könnte allerdings durch Bewegung im Arbeitsalltag bzw. zur Arbeit kompensiert werden. Um nun evaluieren zu können, ob ein höheres Renteneintrittsalter den Gesundheitszustand positiv oder negativ beeinflusst, ist es erforderlich, diesen Effekt von anderen Faktoren zu isolieren, die theoretisch ebenfalls die Gesundheit beeinflussen könnten. Gleichzeitig muss berücksichtigt werden, dass auch der umgekehrte Zusammenhang, also der Einfluss des Gesundheitszustandes auf die Renteneintrittsentscheidung plausibel ist. Methodisch löst Barschkett dieses Problem, indem sie Frauen, die 1951 geboren wurden, mit Frauen, die 1952 geboren wurden, anhand verschiedener Gesundheitsdimensionen im Alter von 60–62 Jahren vergleicht. Die Auswahl dieser sehr spezifischen Gruppen ist geleitet durch die konkreten Rahmenbedingungen, die durch die Abschaffung der Altersrente für Frauen im Jahr 1999 geschaffen wurden. Fiel der Geburtstag einer Frau vor den Stichtag 1. Januar 1952 konnte sie – sofern bestimmte Mindestanforderungen erfüllt waren – mit 60 Jahren vorzeitig in Rente gehen. Jüngere Frauen, die nach diesem Stichtag geboren wurden, konnten hingegen erst mit 63 Jahren vorzeitig in Rente gehen. Diese beiden Gruppen sollten sich daher hinsichtlich ihrer sozio-ökonomischen Charakteristika wie z.B. Bildung oder Einkommen nicht systematisch voneinander unterscheiden. Auch gesellschaftliche Trends, technologische Entwicklungen und weitere gesetzliche Rahmenbedingungen gelten für beide analysierten Gruppen gleichermaßen. Unterschiedliche Gesundheitszustände können unter diesen Annahmen in einer ökonometrischen Analyse somit auf den einzigen bestehenden Unterschied, das ungleiche Alter für einen vorzeitigen Renteneintritt, zurückgeführt werden.

In ihrer empirischen Analyse greift Barschkett auf umfangreiche Daten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zurück, die alle gesicherten, ambulant gestellten Diagnosen und die entstandenen Kosten für ärztliche Leistungen im Zeitraum 2009–2018 für alle gesetzlich-krankenversicherten Frauen der Jahrgänge 1950–1953 abbilden. Ihre Ergebnisse zeigen z.B., dass in der Geburtskohorte 1952 stressbedingte Krankheiten und Stimmungsstörungen im Alter 60–62 vermehrt auftreten und dies ökonometrisch auf die Reform zurückgeführt werden kann. Dass in der kurzen Frist die Dimensionen der psychischen Gesundheit betroffen sind, erscheint plausibel. Allerdings deuten die Ergebnisse auch im Hinblick auf einzelne physische Befunde, denen eher langfristige Entwicklungen zugrunde liegen (etwa Arthrose oder Adipositas), auf einen statistisch signifikanten Anstieg hin. Da sich mit dem Renteneintritt auch Veränderungen in anderen Lebensbereichen ergeben (z.B. mehr Freizeit) wäre an dieser Stelle auch denkbar, dass die Ergebnisse etwa durch vermehrte Arztbesuche zustande kommen. Allerdings zeigen die Daten hier keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den beiden untersuchten Gruppen. Interessant wäre es zu untersuchen, ob die Ergebnisse abhängig von sozio-demographischen Variablen sind. Eine entsprechende Analyse kann jedoch aufgrund von fehlender Datenverfügbarkeit nicht durchgeführt werden.

Barschkett weist darauf hin, dass zwischen Renten- und Gesundheitspolitik ein Zielkonflikt bestehen könnte, da die negativen gesundheitlichen Aspekte eines höheren Renteneintrittsalters mit höheren Gesundheitskosten einhergehen könnten. Diesem Aspekt wird sich Barschkett im folgenden Kapitel ihrer Dissertation widmen, in dem sie untersucht wie sich die Gesundheitskosten durch die Abschaffung der Altersrente für Frauen verändert haben und wie sich die Kosten auf unterschiedliche Krankheiten verteilen. Weitere Kapitel werden sich ebenfalls mit der Wirkung sozialpolitischer Maßnahmen auf die Gesundheit beschäftigen. Hier steht dann allerdings die Kindergesundheit im Vordergrund.

Insgesamt ist die von Barschkett analysierte Fragestellung für die RV interessant und relevant, beeinflusst sie doch das Rentenübergangsgeschehen in erheblichem Maße. So ist die Gesundheitssituation ein wichtiger Faktor für die Rentenzugangsentscheidungen der Versicherten, sie kann ein längeres Arbeiten sowohl positiv als auch negativ beeinflussen und damit auch die Rentenbezugsphase prägen. Als Anbieter und Träger von Leistungen zur Teilhabe und von Leistungen der Rehabilitation liegt die Gesundheit der Versicherten im ureigenen Interesse der RV. Empirische Evidenzen zu diesbezüglichen Entwicklungen erweitern nicht nur das Zusammenhangswissen sondern liefern ggf. auch Hinweise auf präventive Ansätze, die ein längeres Arbeiten gesundheitlich besser flankieren können.

Zusammenhänge zwischen Erwerbsarbeit, Renteneintrittsalter und informeller Pflege – Dissertationsvorhaben von Björn Fischer (FU Berlin / DIW Berlin)

Fischer, seit April 2019 Stipendiat des FNA, beschäftigt sich in seinem Promotionsvorhaben mit dem Zusammenspiel zwischen dem Alterssicherungs- und Pflegesystem. Fischer verfolgt die Forschungsthese, dass die Anhebung des Renteneintrittsalters in der gesetzlichen RV Folgewirkungen auf die individuelle Pflegetätigkeit und das Pflegesystem nach sich ziehen. Das Dissertationsvorhaben wird ebenfalls von Haan gemeinsam mit Prof. Carsten Schröder (FU Berlin/DIW Berlin) betreut.

Das zentrale Interesse der Dissertation von Fischer ist auf das Zusammenwirken des Prozesses der Anhebung der Altersgrenzen mit dem steigenden Bedarf an Pflege gerichtet. Hieraus lässt sich eine ganze Reihe von Fragen ableiten, für die es in der Forschung bisher nur unzureichende Antworten gibt. Ein besonders wichtiger Bereich betrifft informelle Pflege, die insbesondere im deutschen Pflegearrangement eine zentrale Rolle spielt. Informelle Pflege bezeichnet jene Tätigkeiten, die von Familienangehörigen, Partnern oder Freunden übernommen werden, auch wenn diese nicht über eine professionelle Pflegeausbildung verfügen. Die entsprechenden Leistungen werden entweder unentgeltlich erbracht oder über Pauschalbeträge im Rahmen der Pflegeversicherung abgegolten. In Deutschland pflegen derzeit rd. 4,3 Millionen Personen kranke und ältere Angehörige und Freunde. Die Pflege wird dabei zumeist von Frauen (zwei Drittel) erbracht und konzentriert sich auf die Altersgruppen 50–59 und 60–69. In diesen Altersgruppen kommt es häufig zu einem Konflikt zwischen Arbeit und Pflege, der lange Zeit über (Früh-)Verrentung gelöst werden konnte. Wenn nun im Zuge rentenpolitischer Reformen Altersgrenzen angehoben werden, so die Hypothese Fischers, sinkt die Bereitschaft informelle Pflege zu leisten. Damit käme es zu Zielkonflikten zwischen der Alterssicherungspolitik und der Pflegepolitik – etwa weil mit einer Ausweitung der Erwerbsdauer Arrangements informeller Pflege nicht mehr aufrechterhalten werden können. Plakativ formuliert heißt es statt „Rente und Pflege“ zunehmend „Arbeit oder Pflege“.

Um die Auswirkungen einer Erhöhung des Renteneintrittsalters auf das Angebot von informeller Pflege abschätzen zu können, wählt Fischer ein Vorgehen analog zu Barschkett. Er nimmt die Reform zur Abschaffung der Altersrente für Frauen als Ausgangspunkt, um Verhaltensänderungen in der Pflege zu untersuchen. Er vergleicht Frauen ab dem Jahrgang 1952, die frühestens ab dem 63. Lebensjahr in Rente gehen können mit den vor 1952 geborenen Frauen, für die noch eine Grenze ab dem 60. Lebensjahr bestand. Anhand eines Vergleichs der Aktivitäten in der Pflege bei den vor und nach 1952 geborenen Frauen kann Fischer seine These eines Zielkonflikts untermauern. Während die vor 1952 geborenen Frauen mit dem niedrigen Renteneintrittsalter in den Umfragen des Sozio-oekonomischen Panels häufig informelle Pflegetätigkeiten angeben, sinkt die Pflegetätigkeit bei den nach 1952 geborenen Frauen signifikant. Dieses Sinken lässt sich sowohl an der Häufigkeit von informellen Pflegearrangements ablesen als auch an den täglich aufgebrachten Pflegestunden. Die erhöhte Arbeitsmarktteilnahme wird also partiell mit einem Absinken der Pflegetätigkeiten „erkauft“.

Welche Auswirkungen sich aus diesen Befunden für die soziale Sicherung ergeben, wird Fischer u.a. in der verbleibenden Zeit seiner Dissertation untersuchen. Denkbar sind hier verschiedene Konstellationen. Wird der Zusammenhang auf der Systemebene betrachtet, könnten Einsparungen im Rentensystem zu Mehrausgaben im Pflegesystem führen. Naheliegend wäre etwa eine steigende Inanspruchnahme der kostenintensiveren formellen Pflege. Denkbar wären aber auch andere Effekte. So findet Fischer Hinweise darauf, dass informelle Pflegetätigkeit zwar eingeschränkt wird, ohne dass es jedoch zur Ausweitung formeller Pflegetätigkeit kommt. Welche Anpassungsmechanismen hinter solchen Beobachtungen stecken und welche Risiken sich hinter solchen Veränderungen in den Pflegearrangements verbergen, wird sicher eine der großen Herausforderungen für die weitere Forschung am Thema sein. Da die Intensität des Pflegebedarfs und damit auch das Vereinbarkeitsproblem von Pflege und Beruf sehr stark variieren können, bedarf es in jedem Fall einer differenzierteren Betrachtung. So erscheint es plausibel, dass im Fall intensiverer Pflege eine Einschränkung der Pflegetätigkeit deutlich schwieriger ist, als in anderen Settings. Fischer findet hierfür auch erste Anhaltspunkte, denen weiter nachgegangen werden sollte.

Der Zusammenhang zwischen Alterssicherung und Pflege wirft aus Sicht der RV auch auf individueller Ebene zahlreiche interessante Forschungsfragen auf. Die Pflege von Angehörigen etwa wird in der RV rentensteigernd berücksichtigt (sofern noch keine Vollrente bezogen wird). Insofern ergeben sich aus einer pflegebedingten Erwerbsunterbrechung keine unmittelbaren Nachteile der individuellen Altersabsicherung. Gleichwohl entstehen für erwerbstätige Versicherte mit pflegebedürftigen Angehörigen nicht selten besondere Belastungen und Zeitkonflikte, die auch zu einem nachhaltigen Rückzug vom Arbeitsmarkt etwa in Form von Aufgabe der Erwerbstätigkeit, früherem Renteneintritt oder gar Erwerbsminderung bei gesundheitlichen Einschränkungen führen können. Insofern könnte es sehr wohl zu Einschnitten in der Höhe der gesetzlichen Rente kommen. Das Wissen darum, wie sich diese Zusammenhänge empirisch darstellen, ist von Interesse für die Rentenversicherung, weil dadurch u.a. ein bisher wenig beleuchteter Aspekt in der Dynamik des Rentenzugangsgeschehens erhellt werden kann.

Die spannende und herausfordernde Aufgabe für die weitere Arbeit am Dissertationsthema wird es sein, hier die für das Pflege- und Alterssicherungssystem relevanten Effekte trennscharf herauszuarbeiten. Das ist nicht zuletzt deshalb eine anspruchsvolle Aufgabe, weil befragte Personen sowohl unter der Pflegebedürftigkeit der zu Pflegenden als auch unter der informellen Pflegetätigkeit ganz Unterschiedliches verstehen können. Die Dissertation steht hier vor der Herausforderung klare Definitionen bzw. Abgrenzungen herauszuarbeiten. Das ist sowohl für die Operationalisierung in der Datenanalyse als auch für die sozialpolitischen Schlussfolgerungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene wesentlich. Das FNA ist gespannt auf die Erkenntnisse, die für den weiteren Verlauf der Arbeit zu erwarten sind. Möglicherweise ließe sich auf Grundlage der Befunde auch die in der Familienpolitik intensiv geführte Debatte über Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Pflege um wichtige Punkte ergänzen.

Dissertationsvorhaben von Ansgar Keller (Universität Bielefeld): Die Rechtsproblematik der sog. Begehrensneurose – Eine Gegenüberstellung und Analyse der Problembehandlung im Sozialversicherungs- und Privatrecht

Ganz anders gelagert als die zuvor besprochenen Arbeiten, ist die juristische Dissertation von Keller. Er ist seit 2019 Stipendiat des FNA und widmet sich in seinem Promotionsvorhaben den Auswirkungen psychischer Erkrankungen auf Ansprüche im Sozialversicherungs- und Privatrecht. Konkretes Anwendungsfeld ist die in der Rechtsprechung so bezeichnete Renten- oder Begehrensneurose. Nach Unfällen oder anderen einschneidenden Lebensereignissen kann es zu einer psychischen Fehlverarbeitung kommen, bei der der Wunsch nach Abfindung und Verrentung (sekundärer Krankheitsgewinn) zum bestimmenden Faktor der psychischen Situation wird. Die psychischen und somatischen Beschwerden des Betroffenen sind nicht simuliert, aber dennoch mehr oder weniger bewusstseinsnah ausgestaltet Die Betroffenen streben nun eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gemäß § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) an. Dabei ist häufig die rentenrechtliche Relevanz der konkreten psychischen Störung fraglich.

In seinem Zwischenbericht zum Stand des Dissertationsvorhabens präsentiert Keller den sich wandelnden Umgang mit der Begehrensneurose aus historischer Perspektive. Diese Einbettung in gesellschaftliche, historische und sozialmedizinische Kontexte ist wichtig, um die Genese und die aktuell vertretenen Positionen zu verstehen. Keller teilt die historische Entwicklung grob in drei Phasen auf: somatische, psychologische und soziologische bzw. soziale Phase.

Die somatische Phase siedelt er zur Zeit der industriellen Revolution und der Vorkriegszeit des Ersten Weltkrieges an. Infolge der steigenden Technisierung häuften sich sowohl durch öffentliche Transportmittel als auch in industriellen Betrieben Unfälle, bei denen Betroffene Beschwerden entwickelten, die nicht organisch nachweisbar waren. Es wurde allerdings versucht, organische Ursachen als Erklärung für diese Schmerzen zu finden, so z.B. als Auswirkungen von „Erschütterungen des Rückenmarks“. Aufgrund der mangelnden medizinischen Nachweisbarkeit der Symptome entstanden im Gegenzug auch Vorwürfe der Simulation oder des Betrugs, und die Betroffenen galten als schwach, hysterisch oder hypochondrisch. Invalidität existierte schon in vormodernen Gesellschaften als soziales Problem und wurde mit traditionalen, feudal-familiären Strukturen aufgefangen. Die Einführung der gesetzlichen Unfall- und der Haftpflichtversicherung (z.B. Reichshaftpflichtgesetz von 1871, Unfallversicherungsgesetz von 1884) wurde laut Keller aber als ein Grund für die vermehrten Versicherungsfälle im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert angeführt. Mit Aufkommen der Psychoanalyse wandelte sich die Betrachtungsweise hin zur unbewussten Auseinandersetzung der Betroffenen mit psychischen Konflikten. Das markiert für Keller auch den Übergang zur psychologischen Phase, in der fortan nicht mehr versucht wurde, organische Ursachen für das Leiden der Menschen zu finden. Insbesondere psychische Störungen bei Soldaten im Ersten Weltkrieg und infolgedessen auch eine vermeintliche Bedrohung durch Kriegsdienstverweigerung oder „Rentenneurotiker“ machten eine intensive Auseinandersetzung notwendig. Allerdings führte es auch zur Diskreditierung von psychischen Erkrankungen. Keller weist darauf hin, dass sich in dieser Phase auch die Begriffe Begehrens- und Rentenneurose herausbildeten und Traumafolgen in dieser Hinsicht nicht als psychische Erkrankung, sondern als individuell beeinflussbare Reaktion auf Erlebtes betrachtet wurden. Dieser Interpretation folgend, wurden seelische Traumata dann auch in einer Grundsatzentscheidung des Reichsversicherungsamtes von 1926 nicht mehr als rentenberechtigende Krankheit betrachtet. Weitere Bedeutung erlangte der Sachverhalt nach dem Zweiten Weltkrieg in der Auseinandersetzung mit Entschädigungen für KZ-Häftlinge und andere durch die Nationalsozialisten Verfolgte. Keller führt aus, dass Entschädigungsansprüche mit derselben Argumentation zurückgewiesen und Gutachter, die andere Auffassungen vertraten, nicht mehr in weiteren Verfahren berücksichtigt wurden. Die soziologische bzw. soziale Phase beginnt nach Keller mit der Nachkriegszeit und sie kennzeichnet sich für ihn durch einen Richtungswechsel im Umgang mit Traumafolgen. Im Zusammenhang mit den psychischen Erkrankungen von Kriegsveteranen aus dem Vietnamkrieg entwickelte sich die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörungen, die 1980 auch im amerikanischen Klassifikationssystem für psychische Störungen und etwa zehn Jahre später auch in Deutschland in der internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD-10) aufgenommen wurde. Die Kategorie Rentenneurose existiere dort aber auch und bleibe noch bis zum Wechsel in das neue System bis 2022 (ICD-11) erhalten. Trotzdem löst sich das Spannungsverhältnis zwischen Krankheit und Gesundheit auch aufgrund neuerer Diagnosen wie etwa Burnout nicht auf. Fragen, inwieweit Personen tatsächlich „krank“ sind oder sich das „nur“ einbilden bzw. Ansprüche erschleichen wollen, blieben auch weiterhin in der Diskussion. Kellers vorgenommene Phaseneinteilung ist grundsätzlich nachvollziehbar, möglicherweise könnte auch eine vierte Phase ab der Einführung in die ICD bis in die Gegenwart ergänzt werden. Aus Kellers Perspektive wäre eine solche vierte Phase aber eher ab 2000 anzusetzen und könnte sich durch die zunehmende Kritik an Traumakonzepten sowie die seit 20 Jahren an Bedeutung gewinnende Resilienzforschung kennzeichnen.

Aus der, an dieser Stelle knapp zusammengefassten, historischen Aufarbeitung folgert Keller, dass wesentliche Streitpunkte um psychische Belastungsstörungen nach dieser langen Zeit immer noch fortbestehen. Für die Rechtspraxis ergäben sich hieraus einige Forderungen. Dazu zählen u.a. eine erhöhte Sensibilisierung für die Problemlage bei allen Beteiligten (Sachbearbeiter, Anwälte, Richter, Gutachter), eine Weiterentwicklung der Objektivierung subjektiver Beschwerden, die stärkere Berücksichtigung des neuesten Forschungstandes der Medizin und Psychiatrie sowie die Beseitigung von überkommenen oder diskriminierenden Begrifflichkeiten in der Rechts- und Behördensprache.

Die historische Analyse dient Keller als Ausgangspunkt, um in seiner Dissertation eine vergleichende Untersuchung von Renten-, Unfallversicherungs-, Haftungs- und Schadensrecht sowie Unterhaltsrecht anzuschließen. Die Forschungsfragen, die ihn dabei beschäftigen, beziehen sich auf die Stimmigkeit der aktuellen Rechtsprechung, auf potentiellen Modifikationsbedarf oder auch auf die angemessene Risikoverteilung zwischen Sozialversicherungsträgern. In diesem Zusammenhang wird es sehr interessant sein, wie er die Bezüge zur geschilderten historischen Entwicklung herstellt und mit dem Kern der Arbeit verwebt. Die Arbeit behandelt ein sehr spezifisches Problem, welches nicht explizit bzw. ausschließlich im Rentenrecht angesiedelt ist. Der Bezug zur Rentenversicherung ist jedoch mit der Berücksichtigung der Auslegung des Krankheitsbegriffs i. S. des § 43 SGB VI im Kontext der Erwerbsminderungsrente deutlich gegeben. Insgesamt zeigt Kellers Beitrag facettenreich auf, wie sich Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit im Zeitablauf verschieben. Insofern ist die interdisziplinär angelegte Analyse auch eine Aufforderung dazu, die Rechtsanwendungen und -auslegungen kontinuierlich zu reflektieren und ggf. anzupassen.

Ausblick auf das Graduiertenkolloquium 2021

Im Laufe des Jahres 2020 sind drei weitere Promotionsvorhaben in die Förderung des Forschungsnetzwerks Alterssicherung aufgenommen worden. Lisa Damminger beschäftigt sich im Rahmen ihrer Dissertation aus historischer Perspektive mit den Verflechtungen von Rentenversicherung und Wohnungsbau am Beispiel der GAGFAH. Anna Eisele erörtert in ihrer rechtswissenschaftlichen Dissertation im Untersuchungsfeld der betrieblichen Altersversorgung die Frage, inwieweit es möglich ist, bereits erworbene Versorgungsbestandteile mit spezifischen Leistungsversprechen und Sicherheitsgarantien, auf ein garantiefreies System der reinen Beitragszusage zu übertragen. Schließlich nimmt Sebastian Becker eine „Evaluation von Rentenanwartschaften ohne direkten Bezug zur Erwerbshistorie“ vor und untersucht dabei Beschäftigungseffekte, Auswirkungen auf private Altersvorsorge und die Lebenslage im Alter. Das FNA geht fest davon aus, dass neben den oben skizzierten Promotionen auch diese spannenden Arbeiten im Sommer 2021 beim FNA-Graduiertenkolloquium einem breiten Publikum entweder in Präsenz oder online vorgestellt und intensiv diskutiert werden.

Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung: VwGO, Kommentar, von Wolf-Rüdiger Schenke (Hrsg.), 26. Aufl. 2020, XXXIII, 2125 S., in Leinen, Preis 67,– EUR. Verlag C. H. Beck, München.

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