RVaktuell - Fachzeitschrift und amtliche Mitteilungen
RVaktuell - Fachzeitschrift und amtliche Mitteilungen der Deutschen Rentenversicherung

Krankenkassen, Clearingstelle, Prüfdienst – Wer entscheidet über den Status eines Erwerbstätigen?

Die Einführung des § 7a Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) zum 1. 1. 1999 hat die bestehenden Möglichkeiten zur sozialversicherungsrechtlichen Beurteilung einer Erwerbstätigkeit durch die Einzugsstellen nach § 28h SGB IV und im Rahmen von Betriebsprüfungen durch die Rentenversicherungsträger (RV-Träger) nach § 28p SGB IV erweitert. In der Praxis haben sich daraus Abgrenzungsfragen zur Zuständigkeit der Durchführung ergeben, die im Rahmen von Betriebsprüfungen nach § 28p SGB IV und von Einzugsstellenprüfungen nach § 28q SGB IV aufgegriffen worden sind.
Stefan Scheer ist Mitarbeiter des Dezernates Grundsatz Prüfdienst, Yvette Hennig ist Mitarbeiterin im Innendienst und Markus Mücke ist Mitarbeiter im Bereich Einzugsstellenprüfung der Deutschen Rentenversicherung Bund.

1.Die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung einer Erwerbstätigkeit 1 1 Vgl. Einführung des Gesetzes zur Förderung der Selbständigkeit vom 20.12.1999, BGBl. I 2000, S.2.

Der Begriff der „Beschäftigung“ ist im Sozialversicherungsrecht von zentraler Bedeutung. In sämtlichen Zweigen der Sozialversicherung ist er ein Anknüpfungspunkt für die Versicherungspflicht 2 2 Vgl. § 25 Abs. 1 Satz 1 SGB III, § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, § 1 Nr. 1 SGB VI, § 20 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI. . Für diesen Begriff besteht eine Legaldefinition (§ 7 Abs. 1 SGB IV), nach der eine Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis ist. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.

Das Sozialversicherungsrecht sieht mehrere Verfahren vor, die die Klärung des sozialversicherungsrechtlichen Status eines Erwerbstätigen zum Gegenstand haben:

— das Einzugsstellenverfahren (§ 28h Abs. 2 Satz 1 SGB IV),

— die Betriebsprüfungen (§ 28p Abs. 1 Satz 1 SGB IV),

— das optionale Statusfeststellungsverfahren (§ 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV) sowie

— das obligatorische Statusfeststellungsverfahren (§ 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV).

 

Die im Einzelfall nicht immer leicht zu beantwortende Frage, ob eine konkrete Erwerbstätigkeit als versicherungspflichtige Beschäftigung oder als (grundsätzlich) versicherungsfreie selbständige Tätigkeit zu werten ist, hat im sog. Wege des ersten Zugriffs 3 3 So die Formulierung des BSG im Urteil vom 27. 1. 2000 (Az. B 12 KR 10/99 R) Rdnr. 20 (zitiert nach juris). zunächst der Arbeitgeber zu entscheiden. Ist er der Ansicht, dass keine versicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt, hat er nichts weiter zu veranlassen. Allerdings besteht die Gefahr, dass der Sachverhalt bei einer Betriebsprüfung und ggf. im weiteren Rechtsweg durch die Sozialgerichte anders bewertet wird und er deshalb Beiträge in erheblicher Höhe nachzahlen und Säumniszuschläge (§ 24 Abs. 1 SGB IV) entrichten muss. Insofern hat der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse an der frühzeitigen Klärung dieser Frage.

Aber auch ein Erwerbstätiger hat ein Interesse an der Klärung seines sozialversicherungsrechtlichen Status. Er muss wissen, ob er aufgrund seiner Erwerbstätigkeit sozialversicherungspflichtig und somit gegen bestimmte Lebensrisiken bereits abgesichert ist oder ob er mangels Versicherungspflicht ggf. anderweitig Vorsorge treffen sollte.

1.1 Einzugsstellenverfahren

Vorrangig zuständig für die Beurteilung des sozialversicherungsrechtlichen Status eines Erwerbstätigen sind seit jeher die Krankenkassen in ihrer Funktion als Einzugsstellen des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (§ 28h Abs. 1 Satz 1 SGB IV) 4 4 Wehrhahn in: Kasseler Kommentar, SGB IV, § 28h Rdnr. 8. . In dieser Funktion entscheiden sie über die Versicherungspflicht zur Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung (§ 28h Abs. 2 Satz 1 SGB IV) von Erwerbstätigen. Für das Einzugsstellenverfahren gilt der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X).

Die Zuständigkeit der Einzugsstelle ist nicht auf Entscheidungen gegenüber dem Arbeitgeber als dem Schuldner des Gesamtsozialversicherungsbeitrags beschränkt. Sie besteht auch, wenn Erwerbstätige eine solche Entscheidung begehren 5 5 BSG-Urteil vom 23. 9. 2003 (Az. B 12 RA 3/02 R) Rdnr. 15 (zitiert nach juris). . Die Einzugsstelle ist selbst dann zuständig, wenn lediglich über die Versicherungspflicht eines Erwerbstätigen zu einem einzelnen Zweig der Sozialversicherung zu entscheiden ist. Auch in einem solchen Fall ist der von der Entscheidung betroffene Sozialversicherungsträger nicht berechtigt, selbst zu entscheiden 6 6 BSG-Urteil vom 23. 9. 2003 (Az. B 12 RA 3/02 R) Rdnr. 16 (zitiert nach juris). . Die Sozialversicherungsträger sind an diese Zuständigkeitsregelung gebunden. Sie können hierüber nicht disponieren 7 7 BSG-Urteil vom 23. 9. 2003 (Az. B 12 RA 3/02 R) Rdnr. 17 (zitiert nach juris). .

Im Hinblick auf das Verfahren haben die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung im Jahr 2014 vereinbart, dass die Einzugsstellen Verwaltungsakte über Versicherungspflicht, Versicherungsfreiheit oder eine nicht bestehende Versicherungspflicht vor ihrem Erlass grundsätzlich mit dem zuständigen RV-Träger und der BA abzustimmen haben. Auf die Abstimmung kann im Einzelfall verzichtet werden, wenn die Entscheidung

— den in gemeinsamen Verlautbarungen, Rundschreiben, Grundsätzen oder Niederschriften der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung vertretenen Auffassungen entspricht oder

— unstreitige und unzweifelhaft zu beurteilende Sachverhalte betrifft 8 8 S. 38 der Niederschrift der Besprechung des GKV-Spitzenverbandes, der Deutschen Rentenversicherung Bund und der BA über Fragen des gemeinsamen Beitragseinzugs am 9. 4. 2014. .

1.2 Betriebsprüfung

Ein Arbeitgeber wird mindestens alle vier Jahre dahin gehend geprüft, ob er seine Pflichten, die im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag stehen, ordnungsgemäß erfüllt hat. Zuständig für die Prüfung sind die RV-Träger (§ 28p Abs. 1 Satz 1 SGB IV) 9 9 Zur Geschichte der Betriebsprüfung bei den RV-Trägern s. Neidert, Scheer, Pietrek, 20 Jahre Betriebsprüfung durch die Rentenversicherungsträger, RVaktuell 2015, 257-265. . Sie sind befugt, Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege-, Renten- sowie Arbeitslosenversicherung einschließlich der Widerspruchsbescheide gegenüber den Arbeitgebern zu erlassen. Somit sind die RV-Träger bei Betriebsprüfungen ermächtigt, anstelle der Einzugsstelle statusrechtliche Entscheidungen zu treffen.
Früher waren die Einzugsstellen auch für die Betriebsprüfungen zuständig. Im Jahr 1996 wurden allerdings Wettbewerbselemente in die gesetzliche Krankenversicherung eingeführt 10 10 Das Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz hat der Gesetzgeber bereits im Jahr 1992 verabschiedet (BGBl. I 1992, S. 2266 ff.). Die entsprechenden Regelungen zum Kassen¬wahlrecht (Art. 1 Nr. 116 des Gesundheitsstrukturgesetzes) sind allerdings erst zum 1. 1. 1996 in Kraft getreten (vgl. Art. 35 Abs. 6 des Gesundheitsstrukturgesetzes). . Der seitdem bestehende Wettbewerb zwischen den Krankenkassen veranlasste den Gesetzgeber, die Betriebsprüfungen auf die RV-Träger zu übertragen. Dadurch wollte er gewährleisten, dass die Prüfungen der Arbeitgeber auch weiterhin neutral verlaufen 11 11 BT-Drucks. 13/1205 S. 6 (Allgemeiner Teil). .
Seit dem 1. 1. 1999 sind ausschließlich die RV-Träger für Betriebsprüfungen zuständig 12 12 Kreikebohm in Kreikebohm, Kommentar zum SGB IV, § 28p Rdnr. 2, .

1.3 Optionales Statusfeststellungsverfahren

Im Jahr 1999 wurde zudem das sog. optionale Statusfeststellungsverfahren eingeführt. Dieses Verfahren dient der Feststellung, ob eine aufgrund eines Dienst- oder Werkvertrages ausgeübte Tätigkeit als versicherungspflichtige Beschäftigung 13 13 Gegenstand des optionalen Statusfeststellungsverfahrens ist nicht allein die Frage, ob eine Tätigkeit als Beschäftigung zu werten ist (sog. Elementenfeststellung), sondern auch, ob die Beschäftigung eine Versicherungspflicht auslöst (BSG – Urteil vom 11. 3. 2009 [Az. B 12 R 11/07 R] Rdnr. 14 ff. [zitiert nach juris]). zu werten ist (§ 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV). Zuständig ist ausschließlich die Deutsche Rentenversicherung Bund (§ 7a Abs. 1 Satz 3 SGB IV). Das Verfahren wird nur auf schriftlichen Antrag eingeleitet. Antragsberechtigt sind die Vertragspartner, also entweder der Auftraggeber oder der Auftragnehmer, idealerweise beide zusammen. Kein Antragsrecht besteht für Behörden (z. B. Finanzämter, Zollbehörden), sonstige Verwaltungsträger und Dritte, die nicht am Auftragsverhältnis beteiligt sind, jedoch ein Interesse an der verbindlichen Statusfeststellung im Rahmen der „Amtshilfe“ gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Bund bekundet haben 14 14 Zieglmeier in: Kasseler Kommentar, SGB IV, § 7a Rdnr. 13. . Das Ziel dieses Verfahrens ist es, eine schnelle und unkomplizierte Klärung von sozialversicherungsrechtlichen Statusfragen zu ermöglichen, divergierende Entscheidungen zu verhindern und den Beteiligten frühzeitig Rechtssicherheit zu verschaffen 15 15 BT-Drucks. 14/1855 S. 6, BSG-Urteil vom 11. 3. 2009 (Az. B 12 R 11/07 R) Rdnr. 18 (zitiert nach juris). .

1.4 Obligatorisches Statusfeststellungsverfahren

Das sog. obligatorische Statusfeststellungsverfahren existiert seit dem Jahr 2005 16 16 Art. 4 Nr. 3 des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. 12. 2003 (BGBl. I 2003, S. 2975). Der Artikel ist zum 1. 1. 2005 in Kraft getreten (Art. 61 Abs. 1 des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt). Ursprünglich musste das Statusfeststellungsverfahren nur bei Ehegatten und Lebenspartnern durchgeführt werden. Durch das Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 19. 12. 2007 (BGBl. I S. 3024) wurde dieses Verfahren ab dem 1. 1. 2008 auf Abkömmlinge ausgedehnt. .
Bei diesem Verfahren ist die Einzugsstelle verpflichtet, einen Antrag bei der Deutschen Rentenversicherung Bund zu stellen, damit diese prüfen kann, ob eine versicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt (§ 7a Abs. 1 Satz 3 SGB IV). Diese Verpflichtung gilt jedoch nur, wenn sich aus der Meldung eines Arbeitgebers (§ 28a SGB IV) ergibt, dass der Beschäftigte
— Ehegatte, Lebenspartner oder Abkömmling des Arbeitgebers oder
— geschäftsführender Gesellschafter einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH)
ist. Insoweit ist bei diesen Personengruppen die Zuständigkeit von der Einzugsstelle auf die Deutsche Rentenversicherung Bund übergegangen 17 17 Wehrhahn in: Kasseler Kommentar, SGB IV, § 28h Rdnr. 8a. .
Der Anlass für diese Regelung waren die lange Zeit bestehenden Schwierigkeiten bei der Feststellung, ob ein Ehegatte, Lebenspartner oder Abkömmling bzw. ein Gesellschafter-Geschäftsführer eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausübt. In der Vergangenheit kam es immer wieder vor, dass Arbeitgeber für diese Personenkreise Sozialversicherungsbeiträge abführten. Oftmals stellte sich nach Verlust des Arbeitsplatzes heraus, dass diese Personen keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, weil sie keine Beschäftigung im sozialversicherungsrechtlichen Sinne ausgeübt hatten 18 18 BT-Drucks. 15/1749, S. 35 (zu Art. 4 Nr. 3); Beispiel für den Fall eines Familienangehörigen: BSG-Urteil vom 9. 12. 2003 (Az. B 7 AL 22/03 R) und für den Fall eines Gesellschafter-Geschäftsführers: BSG-Urteil vom 29. 10. 1986 (Az. 7 Rar 43/85). .
Den Antrag stellen die Einzugsstellen mittels des sozialversicherungsrechtlichen Meldeverfahrens (§ 28a ff. SGB IV).
Bei der Einstellung eines Arbeitnehmers muss ein Arbeitgeber entscheiden, ob der Arbeitnehmer eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausübt. Ist er der Ansicht, dass dies zutrifft, muss er den Arbeitnehmer bei der Einzugsstelle anmelden (§ 28a Abs. 1 Nr. 1 SGB IV). In der Meldung ist im Datenfeld „Abgabegrund“ die Schlüsselzahl 10 („Anmeldung wegen Beginn einer Beschäftigung“) einzutragen.
Falls der Beschäftigte Ehegatte, Lebenspartner oder Abkömmling des Arbeitgebers ist, ist zusätzlich das Datenfeld „Statuskennzeichen“ mit der Schlüsselzahl 1 („Ehegatte, Lebenspartner oder Abkömmling des Arbeitgebers“) auszufüllen. Wenn der Beschäftigte die Funktion eines Gesellschafter-Geschäftsführers einer GmbH ausübt, ist im Datenfeld „Statuskennzeichen“ die Schlüsselzahl 2 („Gesellschafter-Geschäftsführer“) einzutragen.
Geht bei der Einzugsstelle eine entsprechende Meldung ein (Abgabegrund „10“ und Statuskennzeichen „1“ oder „2“), wird diese an die Deutsche Rentenversicherung Bund weitergeleitet. Die Weiterleitung der Meldung stellt insofern den Antrag der Einzugsstelle dar.
Nach Eingang der Meldung leitet die Deutsche Rentenversicherung Bund das Verwaltungsverfahren zur Statusfeststellung ein.

2. Sonderprüfungen bei Einzugsstellen wegen Auffälligkeiten im Verfahren der sozialversicherungsrechtlichen Beurteilung

Im Jahr 2013 fiel bei Betriebsprüfungen im Raum Baden-Württemberg, bayerisch Schwaben und Rheinland-Pfalz eine erhebliche Anzahl von Bescheiden einer Betriebskrankenkasse auf. Darin wurde Familienangehörigen von kleinen und mittelständischen Arbeitgebern beschieden, dass keine versicherungspflichtige Tätigkeit vorliege, da es sich nicht um ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis handle. Zuvor hatten die Antragsteller die Mitgliedschaft bei ihrer alten Krankenkasse gekündigt und waren zu dieser Betriebskrankenkasse gewechselt. Die Ehe- und Lebenspartner bzw. Kinder des Firmeninhabers wurden als vermeintlich selbständig, d. h. als nicht versicherungspflichtig, beurteilt. Die Bescheide der Krankenkasse waren unabhängig vom Einzelfall inhaltlich überwiegend deckungsgleich und führten als Begründung für das Nichtbestehen von Versicherungspflicht im Wesentlichen die folgenden Argumente auf:
• Die Mitarbeit in Gleichstellung zum Betriebsinhaber oder die Mitarbeit auf familienrechtlicher Basis (familienhafte Mitarbeit) begründen kein abhängiges Beschäftigungsverhältnis bzw. schließen ein solches aus.
• Eine Eingliederung in den Betrieb, wie bei einer fremden Arbeitskraft, liegt nicht vor.
• Das Mitwirken an der Führung des Betriebes, wobei die Mitarbeit aufgrund von familienhaften Rücksichtnahmen durch ein gleichberechtigtes Nebeneinander zum Betriebsinhaber geprägt ist.
• Kein Direktionsrecht durch den Arbeitgeber und dessen Weisungsrecht wird auch tatsächlich nicht ausgeübt.
• Die Übernahme von Bürgschaften, Sicherheiten oder Darlehen für den Betrieb zugunsten des Ehegatten/Angehörigen.
• Zur Führung des Betriebes erforderliche Sachkenntnis, ohne die der Betrieb nicht zu führen wäre.
Die Krankenkasse hatte in ihrer Funktion als Einzugsstelle nach § 28h Abs. 2 Satz 1 SGB IV das Nichtbestehen von Versicherungspflicht für den Zeitraum festgestellt, in der die Krankenkasse die Mitgliedschaft führte.
Auf der Grundlage dieser Bescheide wurden die Familienmitglieder daraufhin in der gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung abgemeldet und die Beitragszahlung eingestellt. Im Bereich der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung erfolgte eine Einstufung als freiwilliges Mitglied bei der Krankenkasse.
Die Prüfer konnten den Sachverhalt im Rahmen der Betriebsprüfung nicht abschließend beurteilen. Die Familienmitglieder waren zuvor teilweise schon jahrelang als versicherungspflichtig Beschäftigte im Unternehmen angestellt gewesen. Auch eine wesentliche Änderung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten war nicht feststellbar.
Teilweise hatten die ehemaligen Krankenkassen und/oder die Deutsche Rentenversicherung Bund in ihrer Funktion als Clearingstelle zuvor sogar den sozialversicherungsrechtlichen Status beurteilt und waren zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis gehandelt hat. Mit dem Krankenkassenwechsel waren bestimmte Familienmitglieder mit einem neuen Arbeitsvertrag ausgestattet worden. Für die Prüfer ergaben sich in diesem Zusammenhang Ungereimtheiten und Fragen. Diese konnten nur bei den Einzugsstellen geklärt werden. Aus diesem Grund wurde der Einzugsstellenprüfdienst eingeschaltet 19 19 Die RV-Träger und die Bundesagentur für Arbeit prüfen bei den Einzugsstellen nach § 28q Abs. 1 SGB IV die Durchführung der Aufgaben, für die die Einzugsstellen eine Vergütung nach § 28l Abs. 1 SGB IV erhalten; zur Einzugsstellenprüfung s. Scheer, Hennig, Lehmann, Prüfung der Einzugsstellen nach § 28q SGB IV, RVaktuell 2015, 194-201. .
Nach Sichtung der Unterlagen erfolgte eine Abstimmung mit der Deutschen Rentenversicherung Bund, den Regionalträgern und der Bundesagentur für Arbeit (BA). Der Beschluss eine Sonderprüfung bei der betroffenen Einzugsstelle durchzuführen wurde gefasst, um den Hintergründen der Bescheiderteilung auf den Grund zu gehen, Verdachtsmomente für unrechtmäßige Entscheidungen der Einzugsstelle auszuräumen und ggf. gegen rechtswidrige Verwaltungsakte vorzugehen.
Ende März 2014 wurde die Sonderprüfung durchgeführt. Insgesamt wurden mehrere hundert Fälle überprüft.
In fast allen Fällen erfolgte der Wechsel der Familienmitglieder zu dieser Krankenkasse auf Initiative einer Versicherungsvermittlungsagentur (im Folgenden: Agentur), die sich nach eigenen Angaben darauf spezialisiert hatte, im Betrieb mitarbeitende Familienangehörige selbständiger Unternehmer „von der Sozialversicherungspflicht zu befreien“.
Gegen Zahlung eines Honorars war den Kunden in Einzelgesprächen und Informationsveranstaltungen, teilweise von Berufsverbänden oder Einzelhandelsgruppierungen organisiert, ein kompletter Service angeboten worden. Die Agentur kümmerte sich um die vollständige Abwicklung des „Befreiungsverfahrens“. Neben der Vollmacht für diese Agentur wurden auch Vereinbarungen mit einem Rechtsanwalt unterschrieben. Darin bevollmächtigten die Auftraggeber diesen, die Voraussetzungen einer Befreiung zu prüfen, zu beraten und sie zu vertreten. Die Vergütung des Anwalts wurde von der Agentur übernommen. Später stellte sich heraus, dass der bevollmächtigte Rechtsanwalt gleichzeitig in leitender Position für die Agentur tätig war.

Die den Bescheiden zugrunde liegenden Feststellungsbögen zur versicherungsrechtlichen Beurteilung eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen Angehörigen im Rahmen des Anfrageverfahrens gem. § 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV waren ausnahmslos handschriftlich und immer mit derselben Handschrift ausgefüllt. Im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (vgl. Abschn. unter 5.) stellte sich heraus, dass dies die Handschrift einer Mitarbeiterin der Agentur war. Der Feststellungsbogen war jeweils um ein maschinell erstelltes Zusatzblatt ergänzt, das eine umfassende Beschreibung der ausgeübten Tätigkeit, die Darstellung besonderer Fachkenntnisse und die Erklärung darüber, dass eine Eingliederung in den Betrieb wie bei einer fremden Arbeitskraft nicht vorliege, beinhaltete. Darüber hinaus waren neu erstellte – in allen Fällen nahezu identische – Arbeitsverträge beigefügt. Darin wurde zum Ausdruck gebracht, dass der betroffene Antragsteller im Unternehmen eine neue Tätigkeit übernommen und nunmehr in leitender Funktion tätig sei. Aufgrund der familienhaften Rücksichtnahme zwischen den Vertragspartnern und der Berücksichtigung des Betriebswohles gebe es außerdem ausdrücklich keine Weisungen zur Ausführung der Tätigkeit hinsichtlich Zeit, Ort, Art und Weise der Tätigkeit.
Die im Rahmen der Sonderprüfung geprüften Fälle wiesen alle eine identische Vorgehensweise bei der sozialversicherungsrechtlichen Beurteilung auf. Lediglich bedingt durch die unterschiedlichen Berufe in verschiedenen Branchen ergaben sich Unterschiede. Das bezog sich sowohl auf die eingereichten Unterlagen der Antragsteller bzw. der Agentur als auch auf die Bescheide der Einzugsstelle. Die Bescheide waren deckungsgleich und unterschieden sich lediglich durch die persönlichen Daten der Antragsteller sowie das Ende der Versicherungspflicht zur Sozialversicherung. In fast allen Fällen waren die Neumitglieder der betroffenen Krankenkasse noch einen Monat Pflichtmitglied. Danach endete die Beitragszahlung zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Aus der Pflichtmitgliedschaft zur Kranken- und Pflegeversicherung wurde ab dem zweiten Monat eine freiwillige Mitgliedschaft bei der Krankenkasse.
Die überwiegende Anzahl der im Rahmen der Sonderprüfung überprüften Bescheide war aufgrund der Nichtbeachtung höchstrichterlicher Rechtsprechung rechtswidrig. Eine vorherige Abstimmung erfolgte weder mit der BA noch mit dem zuständigen RV-Träger.
Die Sonderprüfung wurde mit dem Versand einer Prüfmitteilung an die Einzugsstelle abgeschlossen, mit der diese Vorgehensweise der sozialversicherungsrechtlichen Beurteilung beanstandet wurde. Gleichzeitig sind die rund zweihundert rechtswidrigen Bescheide vor dem Sozialgericht (SG) Berlin angefochten worden 20 20 S. dazu auch Schifferdecker, Erwartungen der Sozialgerichte an die Prozessführung der Krankenkassen, KrV 2015, 11-14 (12). . Das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) – ehemals Bundesversicherungsamt (BVA) – wurde als zuständige Aufsichtsbehörde informiert und gebeten, die Einleitung von aufsichtsrechtlichen Maßnahmen zu prüfen.
Die betroffene Krankenkasse beendete daraufhin die „Zusammenarbeit“ mit der Agentur und änderte umgehend ihre Vorgehensweise. Wenige Wochen danach hatte eine andere Krankenkasse die Zusammenarbeit mit der Agentur und dieselbe Vorgehensweise aufgenommen. Erneut waren die Regionen Baden-Württemberg, bayerisch Schwaben und Rheinland-Pfalz betroffen. Da der Prüfdienst bereits sensibilisiert war, wurde auch diese „Auffälligkeit“ schnell entdeckt. Hier fand ebenfalls eine Sonderprüfung statt, die mit einer entsprechenden Prüfmitteilung und der Informationsweitergabe an das BAS abgeschlossen wurde. Diese Krankenkasse war einsichtig und zeigte sich im Anfechtungsverfahren kooperativ.
Nach dieser Aufdeckung trat dieses „Phänomen“ noch bei einer weiteren – der dritten – Krankenkasse auf, die auch zu einer Sonderprüfung aufgesucht und mit einer entsprechenden Prüfmitteilung bedacht wurde.
Insgesamt sind von der Deutschen Rentenversicherung Bund über 300 Bescheide vor dem SG Berlin angefochten worden. In der überwiegenden Anzahl der Fälle waren Ehegatten, Abkömmlinge und GmbH-Gesellschafter-Geschäftsführer – der Personenkreis des § 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV – betroffen.

3. Anfechtungsverfahren

Die ersten Urteile 21 21 SG Berlin, Urteile vom 6. 3. 2015 - Az. S 166 KR 656/14, S 166 KR 671/14, S 166 KR 707/14, S 166 KR 893/14, S 166 KR 907/14, S 166 KR 930/14. wurde zugunsten der Deutschen Rentenversicherung Bund am 6. 3. 2015 erlassen. In kurzer Zeit ergingen viele weitere. Bis auf eine Kammer sah das SG Berlin die Deutsche Rentenversicherung Bund in ihren eigenen Rechten verletzt, auch wenn sie nicht der kontoführende RV-Träger war. Im Wesentlichen mit der Begründung, dass die Einzugsstellen nicht befugt waren, für den Personenkreis des § 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV sozialversicherungsrechtliche Beurteilungen vorzunehmen, sondern allein die Deutsche Rentenversicherung Bund. Über den Inhalt der sozialversicherungsrechtlichen Beurteilung an sich wurde nur in den wenigen Fällen entschieden, in denen es nicht um den Personenkreis des § 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV ging und die Deutsche Rentenversicherung Bund der kontoführende RV-Träger war, sofern die Beklagte nicht ohnehin bereits ein Anerkenntnis abgeben hatte.
Die Beklagte legte gegen alle verlorenen Verfahren Berufung ein. Neun Fälle wurden am 13. 12. 2017 beim Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg verhandelt. In sieben Verfahren wurde die Berufung zurückgewiesen; die Beklagte legte dagegen Revision ein.
In zwei Verfahren erging ein Urteil zuungunsten der Deutschen Rentenversicherung Bund. Grund dafür war, dass sie nicht in ihren eigenen Rechten verletzt gewesen sei, weil die betroffenen Versicherten nicht zum Personenkreis des § 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV gehören und die Deutsche Rentenversicherung Bund auch nicht der kontoführende RV-Träger war.

3.1 Verfahren beim Bundessozialgericht (BSG)

Die sieben anhängigen Verfahren wurden am 16. 7. 2019 verhandelt. Zwei Verfahren – B 12 KR 5/18 R und B 12 KR 6/18 R – wurden durch Urteil vom 16. 7. 2019 entschieden. Nach Mitteilung der wesentlichen Entscheidungsgründe im Verfahren B 12 KR 6/18 R (Leitentscheidung) nahm die beklagte Krankenkasse in allen übrigen Verfahren, bis auf eines, das durch Vergleich beendet wurde, die Revision zurück.
Das BSG hat in der Leitentscheidung die von den Vorinstanzen 22 22 SG Berlin, Urteil vom 24. 11. 2015 - S 208 KR 899/14; LSG Berlin¬Brandenburg, Urteil vom 13. 12. 2017 - L 9 KR 539/15. getroffene Feststellung, dass die Drittanfechtungsklage der Deutschen Rentenversicherung Bund nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und begründet sei und die beklagte Krankenkasse den streitgegenständlichen Bescheid mangels Zuständigkeit nicht hätte erlassen dürfen, bestätigt.

3.2 Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das BSG befasst sich zu Beginn seiner Ausführungen mit dem von der Beklagten gerügten Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter 23 23 S. hierzu BSG vom 16. 7. 2019 - B 12 KR 6/18 R - juris, Rdnr. 13-19. und im Weiteren ausführlich mit der Frage der Zulässigkeit und Begründetheit der Klage.

3.3 Zulässigkeit der Drittanfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG

Das BSG sieht die Zulässigkeitsvoraussetzungen als erfüllt an. Durch die Drittanfechtungsklage kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes durch einen Dritten, dessen rechtliche Interessen durch die hoheitliche Maßnahme berührt sind, begehrt werden. Das setzt nach dem BSG voraus, dass der Kläger klagebefugt, die Klagefrist gewahrt, das Klagerecht nicht verwirkt ist und ein Rechtsschutzbedürfnis besteht 24 24 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 21. .
• Klagebefugnis der Deutschen Rentenversicherung Bund
Nach § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG setzt die Klagebefugnis für eine Anfechtungsklage voraus, dass der Kläger behauptet, durch den angefochtenen Verwaltungsakt beschwert zu sein. Die Möglichkeit, dass der Kläger in seinen eigenen Rechten verletzt ist, muss bestehen 25 25 S. hierzu BSG vom 16. 7. 2019 - B 12 KR 6/18 R - juris, Rdnr. 13-19. . Die Klagebefugnis fehlt nur dann, wenn dem Kläger das geltend gemachte Recht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zustehen kann.
Der Kläger als Drittbetroffener kann nach Auffassung des BSG beschwert sein, wenn in dessen Rechtssphäre durch den an einen anderen gerichteten Verwaltungsakt eingegriffen wird. Er muss sich auf eine drittschützende Rechtsnorm berufen können, die zumindest auch der Verwirklichung seiner individuellen rechtlichen Interessen zu dienen bestimmt ist. Das BSG sieht das als gegeben an, wenn der Verstoß gegen eine Vorschrift geltend gemacht wird, die dem Dritten nach ihrem Regelungsgehalt zu schützen bestimmt ist und ihm zugleich die Rechtsmacht verleiht, ihre Verletzung vor Gericht zu verfolgen 26 26 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 23 m. w. N. .
Die Frage, ob der angegriffene Verwaltungsakt den Anfechtenden tatsächlich in seinen eigenen Rechten verletzt, gehört dagegen zur Begründetheit der Klage.
Unter diesen Gesichtspunkten kommt das BSG zu dem Ergebnis, dass die Deutsche Rentenversicherung Bund als Clearingstelle klagebefugt ist, soweit sie sich in obligatorischen Statusfeststellungsverfahren nach § 7 a Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB IV gegen Statusfeststellungen der Einzugsstelle wendet. Im Sinne der Möglichkeitstheorie ist es nicht ausgeschlossen, dass § 7a Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Satz 3 SGB IV eine „wehrfähige“ Alleinzuständigkeit für das obligatorische Statusfeststellungsverfahren zuweist, die ihr im Fall einer von der Einzugsstelle kompetenzwidrig erteilten Statusentscheidung die Rechtsmacht verleiht, die Rechtsverletzung gerichtlich beseitigen zu lassen 27 27 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 24. .
• Klagefrist
Die Klagefrist für einen von einem Verwaltungsakt betroffenen Dritten richtet sich grundsätzlich danach, ob ihm der Verwaltungsakt überhaupt bekannt gegeben wurde.
Das BSG lässt es offen, ob die Bekanntgabe durch die Kenntniserlangung bei der Einzugsstellensonderprüfung am 2. 5. 2014 erfolgte. In diesem Fall würde die Einmonatsfrist des § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG gelten. Oder ob wegen des im Statusbescheid angegebenen Rechtsbehelfs des Widerspruchs, dessen es nach § 78 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGG nicht bedarf, wenn ein Versicherungsträger klagen will, eine unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung gegenüber der Klägerin vorlag. In diesem Fall wäre die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGG maßgebend. Da die Klage am 23. 5. 2014 erhoben wurde, ist die Monatsfrist gewahrt 28 28 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 25. . Auf die Klärung, welche Frist anzusetzen ist, kommt es aus Sicht des BSG daher nicht an.
• Verwirkung des Klagerechts?
Das Klagerecht der Klägerin könnte ausnahmsweise verwirkt sein. Das setzt voraus, dass bei Klageerhebung bereits ein gewisser Zeitraum verstrichen ist (Zeitmoment) und der Klageberechtigte unter den besonderen Verhältnissen des Einzelfalls untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise eine Rechtsschutzaktivität entfaltet wird (Umstandsmoment). Erst durch die Kombination beider Elemente wird eine Kombination geschaffen, auf die der Klagegegner vertrauen darf. Zudem kann sich auf Verwirkung nur berufen, wer sich selbst redlich verhält 29 29 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 27 m. w. N. .
Das BSG sieht das Zeitmoment nicht als gegeben an. Die Klägerin ist nicht unter solchen Umständen untätig geblieben, unter denen vernünftigerweise zur Wahrung ihrer Rechte gehandelt wird. Sie hat ihr Klagerecht als Drittbetroffene rechtzeitig ausgeübt, weil der Rechtsbehelf nach Kenntniserlangung innerhalb eines Monats ausgeübt wurde.
Das Umstandsmoment wird vom BSG trotz der Beteiligung der Klägerin an der „Gemeinsamen Verlautbarung zur Behandlung von Verwaltungsakten (Beitragsbescheiden) durch die am gemeinsamen Beitragseinzug beteiligten Versicherungsträger“ vom 21. 11. 2006 nicht als gegeben angesehen. Darin hatten die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung Regelungen getroffen, die vom BSG mit Urteil vom 3. 7. 2013 – B 12 KR 8/11 R teilweise für rechtswidrig erkannt wurden. Danach ist es mit den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht zu vereinbaren, wenn sich ein Sozialversicherungsträger mit Blick auf die einjährige Klagefrist wegen unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung beruft, die er im Wege einer Verwaltungsvereinbarung selbst mit herbeigeführt hat 30 30 BSG vom 3. 7. 2013 - B 12 KR 8/11 R - juris, Rdnr. 29. . Das wird von der Klägerin gerade nicht in Anspruch genommen, da sie innerhalb der Monatsfrist Klage erhoben hat.
• Rechtsschutzbedürfnis
Das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin liegt nach Auffassung des BSG vor. Die angestrebte vollständige Aufhebung des Statusbescheids kann nicht auf einfachere Weise als durch die Drittanfechtungsklage erreicht werden 31 31 S. hierzu BSG vom 16. 7. 2019 - B 12 KR 6/18 R - juris, Rdnr. 31. .

3.4 Begründetheit der Drittanfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG

Das BSG sieht die Klage auch als begründet an. Der von der Beklagten kompetenzwidrig erlassene Statusbescheid verletzt den Kläger in seiner Alleinzuständigkeit für das obligatorische Statusfeststellungsverfahren.
• Sachliche Unzuständigkeit der Einzugsstelle
Die Beklagte war als Einzugsstelle sachlich unzuständig, weil die Deutsche Rentenversicherung Bund (Clearingstelle) gem. § 7a Abs. 1 Satz 3 SGB IV alleinzuständig für das obligatorische Statusfeststellungsverfahren nach § 7 a Abs. 1 Satz 2 SGB IV ist.
• Tatbestandsvoraussetzungen des obligatorischen Statusfeststellungsverfahrens nach § 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV
Die Einzugsstelle hat nach § 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV einen Antrag nach Satz 1 zu stellen, wenn sich aus der Meldung des Arbeitgebers nach § 28a SGB IV ergibt, dass der Beschäftigte Ehegatte, Lebenspartner oder Abkömmling des Arbeitgebers oder geschäftsführender Gesellschafter einer GmbH ist (sog. obligatorisches Statusfeststellungsverfahren). Über den Antrag entscheidet die Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund gem. § 7a Abs. 1 Satz 3 SGB IV.
Nach dem BSG erfasst die erforderliche Meldung des Arbeitgebers neben der Meldung bei Beschäftigungsbeginn auch diejenige bei einem Wechsel der Einzugsstelle.
Begründet wird das unter Hinweis auf die mit einem Klammerzusatz in § 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV in Bezug genommene Vorschrift des § 28a SGB IV. Diese normiert eine Meldepflicht des Arbeitgebers sowohl „bei Beginn der versicherungspflichtigen Beschäftigung“ (§ 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IV) als auch „bei Wechsel der Einzugsstelle“ (§ 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 SGB IV). Bei diesen beiden Meldeereignissen sind die in § 28a Abs. 3 Satz 2 Nr. 1d SGB IV genannten Angaben zum persönlichen Näheverhältnis zwischen Beschäftigtem und Arbeitgeber erforderlich. Dass das ausdrücklich nur „bei der Anmeldung“ verlangt wird, steht dem nicht entgegen 32 32 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 35. .
Das BSG bezieht sich dabei darauf, dass eine Beschränkung auf (Erst-)Anmeldungen i. S. von § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IV bereits wegen der unterschiedlichen Gesetzesformulierung nicht anzunehmen ist. Ansonsten wäre in § 28a Abs. 3 Satz 2 Nr. 1d SGB IV nicht an die „Anmeldung“, sondern an den in § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IV genannten Meldetatbestand „Beginn der versicherungspflichtigen Beschäftigung“ angeknüpft worden. Auch geht ein Wechsel der Einzugsstelle i. S. von § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 SGB IV zwingend mit der „Anmeldung“ eines neuen Mitglieds als versicherungspflichtig Beschäftigter bei der neu gewählten Krankenkasse einher 33 33 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 36. . Das BSG sieht sich auch durch die Entstehungsgeschichte des § 28a Abs. 3 Satz 2 Nr. 1d SGB IV bestätigt 34 34 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 37. .
Das obligatorische Statusfeststellungsverfahren wird gem. BSG auch bei einem Wechsel der Einzugsstelle ausgelöst, wenn mit ihr das Verwandtschaftsverhältnis nicht ausdrücklich bezeichnet wird, die Einzugsstelle hiervon aber auf andere Weise Kenntnis erlangt hat, der Arbeitgeber von einer versicherungspflichtigen Beschäftigung des Familienarbeiters ausgegangen ist und das aufgrund objektiver Umstände der Einzugsstelle gegenüber zum Ausdruck gebracht hat 35 35 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 38-40. .
Eines Antrags der Einzugsstelle an die Clearingstelle bedarf es aus Sicht des BSG nicht, auch wenn der Wortlaut des § 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV das vorsieht. Der auf der Rechtsfolgenseite der Vorschrift bezeichnete Antrag hat keine konstitutive Bedeutung, ihm kommt lediglich eine ordnungserhaltende Funktion zu. Er dient der Sicherstellung der Durchführung des obligatorischen Statusfeststellungsverfahrens bei der Clearingstelle und soll nicht von der Entscheidung der Einzugsstelle abhängig sein, einen Antrag zu stellen oder nicht 36 36 BSG, a. a. O., uris, Rdnr. 41. .
• Alleinzuständigkeit der Deutschen Rentenversicherung Bund (Clearingstelle) für das obligatorische Statusfeststellungsverfahren nach § 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV
Meldet der Arbeitgeber die Beschäftigung seines Ehegatten, Lebenspartners oder von Abkömmlingen oder eines Gesellschafter-Geschäftsführers, ist nach § 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV das Statusfeststellungsverfahren zwingend durch die Clearingstelle durchzuführen (§ 7a Abs. 1 Satz 3 SGB IV). Ein bereits eingeleitetes Einzugsstellenverfahren entfaltet nach dem BSG keine Sperrwirkung 37 37 Zur Sperrwirkung s. Rittweger in: BeckOK Sozialrecht, 57. Edition, Stand: 1. 6. 2020, SGB IV, § 7a, Rdnr. 10. . Dieses wäre weder mit dem Wortlaut des § 7 a Abs. 1 Satz 2 SGB IV noch mit dem Sinn und Zweck des obligatorischen Statusfeststellungsverfahrens in Einklang zu bringen und widerspreche dem gesetzgeberischen Anliegen 38 38 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 42-44. .
• Verletzung des subjektiven Rechts auf Alleinzuständigkeit
Die Beklagte verletzt durch die angefochtene Statusentscheidung das subjektive Recht der Klägerin auf Alleinzuständigkeit. Beim Vorliegen der Voraussetzungen eines obligatorischen Statusfeststellungsverfahrens, wird eine „wehrfähige“ Zuständigkeit der Deutschen Rentenversicherung Bund begründet.
• Subjektives Recht
Nach dem BSG räumt die Zuständigkeitsvorschrift des § 7 a Abs. 1 Satz 3 SGB IV der Deutschen Rentenversicherung Bund ein verselbständigtes Kompetenzrecht ein, das im Konfliktfall gegenüber einem anderen Hoheitsträger „wehrfähig“ sein soll. Diese wehrfähige Rechtsposition unterscheidet sich von den sonst subjektivöffentlichen Rechten, die Ausdruck von Individualität und Personalität sind, dadurch, dass sie durch ihre Gemeinwohlorientierung gekennzeichnet sind. Das mit dem „Auftragsprogramm“ der Kompetenznorm dem Hoheitsträger zugewiesene gemeinwohlorientierte Sachinteresse macht das Kompetenzrecht „wehrfähig“ 39 39 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 46. .
• Wehrfähige Rechtsposition
Der Klägerin ist für im obligatorischen Statusfeststellungsverfahren kompetenzwidrig erlassene Verwaltungsakte aufgrund der ihr übertragenen Alleinzuständigkeit eine „wehrfähige” Rechtsposition 40 40 S. dazu auch Kingreen, Subjektiv-öffentliche Rechte auf Wahrung der Zuständigkeitsordnung. Die Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Statusfeststellung nach § 7a Abs. 1 Satz 2 SGB IV NZS 2020, 613-619. eingeräumt. Nach Auffassung des BSG ist die ihr als Clearingstelle zugewiesene Alleinzuständigkeit gemeinwohlorientiert, da sie Interessenkonflikte anderer Hoheitsträger vermeidet. § 7a Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Satz 3 SGB IV sieht eine Verfahrenskonzentration bei der Clearingstelle vor. Ihr ist die Entscheidungsbefugnis in Fällen zugewiesen, in denen es typischerweise an einem Interessengegensatz der Vertragspartner fehlt. Deren übereinstimmende Einschätzung über den sozialversicherungsrechtlichen Status eines Familienangehörigen oder Geschäftsführers einer GmbH soll nicht zu Interessenkonflikten der Krankenkassen untereinander führen. Wie die Konzentration der Betriebsprüfungen auf die RV-Träger nach § 28p SGB IV, dient auch die alleinige Zuständigkeit der Clearingstelle nach § 7 a Abs. 1 Satz 3 SGB IV der Vermeidung von Interessenkollisionen, die bei Statusfragen an die Einzugsstellen nicht auszuschließen sind 41 41 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 48 f. .
Das BSG führt weiter aus, dass der Gesetzgeber auch durch verfahrensrechtliche Vorschriften sicherstellen darf, dass nicht von vornherein der Eindruck entstehen kann, eine Behörde handele bei ihrer Entscheidung, ob Versicherungs- und Beitragspflicht vorliegt, aus eigenem, gerade der Körperschaft dienenden Interesse. Die alleinige Zuständigkeit der Deutschen Rentenversicherung Bund nach § 7 a Abs. 1 Satz 3 SGB IV ist eine solche Sicherungsmaßnahme und dient damit dem Allgemeinwohl 42 42 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 50. .
Die Gemeinwohlorientierung kommt nach dem BSG auch in der von der Kompetenznorm ausgehenden Schutzwirkung zugunsten einzelner Versicherter zum Ausdruck. Durch das obligatorische Statusfeststellungsverfahren sollen die Betroffenen Rechtssicherheit erlangen können, dass ihnen von Amts wegen eine Entscheidung über das Bestehen von Versicherungspflicht in allen Zweigen zukommt. Dies beinhaltet auch die leistungsrechtliche Bindung gegenüber der BA nach § 336 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) 43 43 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 51. .

3.5 Fazit

Als Resümee hält das BSG fest, dass nur die Anerkennung der Alleinzuständigkeit der Deutschen Rentenversicherung Bund für das obligatorische Statusfeststellungsverfahren als wehrfähiges, mit der Möglichkeit einer Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 und 2 Satz 1 SGG effektiv durchsetzbares subjektives Recht der Aufgabenzuweisung des Gesetzgebers Rechnung trägt 44 44 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 52. .
Vor dem Hintergrund des der Klage zugrunde liegenden Sachverhalts weist das BSG noch ausdrücklich darauf hin, dass die Alleinzuständigkeit der Deutschen Rentenversicherung Bund für das obligatorische Statusfeststellungsverfahren eine bewusste Umgehung der Zuständigkeitsverteilung zwischen ihr und den Einzugsstellen vermeidet, die im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen werden kann 45 45 BSG, a. a. O., juris, Rdnr. 52. .

4. Strafrechtliches Ermittlungsverfahren

Die Staatsanwaltschaft ermittelt sowohl gegen Verantwortliche der mittlerweile insolventen Agentur als Versicherungsvermittler als auch gegen Mitarbeiter der beteiligten Krankenkassen. Der Vorwurf: Betrug. Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wurde anlässlich der Anzeige eines betroffenen Versicherten aufgenommen.
Die Motivation der Agentur und der beteiligten Krankenkassen liegt auf der Hand. Die Agentur erhielt für den Abschluss von privaten Altersvorsorgeverträgen erhebliche Provisionszahlungen und die Krankenkassen konnten Mitglieder gewinnen.
Die Deutsche Rentenversicherung Bund unterstützte die Staatsanwaltschaft in den Anfängen ihrer Ermittlungsarbeit und berechnete einen Beitragsschaden in Höhe von mindestens 10 Mio. EUR.

Die Verlierer dieses Verfahrens sind die Unternehmen und die Beschäftigten. Für die einen bedeutet die Situation, dass sie immense Beitragsnachzahlungen zu leisten haben. Für die anderen bedeutet es, dass sie die privaten Verträge nur mit erheblichen Einbußen kündigen können.

5. Ausblick

Die noch offenen Verfahren vor dem SG und dem LSG waren aufgrund der anhängigen Klagen vor dem BSG ruhend gestellt worden. Nach Veröffentlichung des Urteils wurden diese nach und nach wieder aufgenommen.
Nach Abschluss der Anfechtungsverfahren wird dem Beitragseinzug bei den drei Krankenkassen nachgegangen. Sollte festgestellt werden, dass die Sozialversicherungsbeiträge nicht vollständig eingezogen werden konnten, wird die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruches der RV-Träger und der BA nach § 28r Abs. 1 SGB IV in Höhe der entgangenen Beiträge zu prüfen sein.
Die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung haben sich am 18. 3. 2020 auch mit dem Urteil befasst 46 46 Besprechung des GKV-Spitzenverbandes, der Deutschen Rentenversicherung Bund und der BA über Fragen des gemeinsamen Beitragseinzugs am 18. 3. 2020, TOP 3. . Sie sind der Auffassung, dass die Urteile des BSG i. S. der erkannten Rechtswidrigkeit der betreffenden Statusentscheidungen der als Einzugsstelle handelnden Krankenkasse über die entschiedenen Einzelfälle und die zahlreich gleichgelagerten und von der Rentenversicherung beanstandeten Statusentscheidungen hinaus keine Anwendung finden. Dementsprechend ist für die in Rede stehenden Beschäftigten (weiterhin) lediglich bei der erstmaligen Aufnahme der Beschäftigung, nicht jedoch bei einem späteren Wechsel der Krankenkasse ein obligatorisches Statusfeststellungsverfahren durchzuführen. Eine gesetzliche Klarstellung wird angeregt.

Die Sozialversicherungswahlen sind nach Bundestags- und Europawahl die drittgrößten Wahlen in Deutschland. 2017 waren knapp 51 Millionen Menschen aufgerufen, ihre Stimme abzugeben, um die ehrenamtlichen Vertreterinnen und Vertreter für die wichtigsten Entscheidungsgremien der Sozialversicherungsträger zu bestimmen. Die nächsten Wahlen finden 2023 statt. Am 17.2.2021 wurde das Gesetz zur Verbesserung der Transparenz in der Alterssicherung und der Rehabilitation sowie zur Modernisierung der Sozialversicherungswahlen (Gesetz Digitale Rentenübersicht) vom 11.2.2021 verkündet. Neben Verbesserungen der Transparenz in der Alterssicherung und der Rehabilitation enthält das Gesetz die seit Jahren erwarteten Neuerungen im Sozialversicherungswahlrecht. Damit wird eine seit mehreren Legislaturperioden andauernde Diskussion – insbesondere um die demokratische Legitimation und Transparenz der Sozialversicherungswahlen – zum Abschluss gebracht.

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