1. Rückblick auf die Gesetzesentwicklung
Bis zum Gesetz zur Verbesserung der Transparenz in der Alterssicherung und der Rehabilitation sowie zur Modernisierung der Sozialversicherungswahlen (Gesetz Digitale Rentenübersicht) vom 11.2.2021 1 1 Gesetz zur Verbesserung des Wahlrechts in der Sozialversicherung vom 27.7.1984 (BGBl. I, S. 1029). war es eine lange Entwicklung.
Die letzte grundlegende Reform des Sozialversicherungswahlrechts liegt mehr als 45 Jahre zurück. Im Jahr 1974 setzte die Einführung der Briefwahl ein positives Signal in der Historie der Sozialversicherungswahlen: Der seit 1958 zu verzeichnende Rückgang der Wahlbeteiligung 2 2 Vgl. hierzu Entwicklung der Wahlbeteiligung in Prozent, Die Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen, Schlussbericht über die Sozialwahlen 2017, S. 18, Oktober 2018. wurde gestoppt. Mit dem Wahlrechtsverbesserungsgesetz 3 3 Gesetz zur Verbesserung des Wahlrechts in der Sozialversicherung vom 27.7.1984 (BGBl. I, S. 1029). wurde 1984 die Briefwahl für die Wahlen zu den Vertreterversammlungen obligatorisch. Die Wahlbeteiligung stieg 1974 um mehr als 20 % auf über 40 % und blieb bis zur Wahl 1993 auf diesem Niveau annähernd stabil 4 4 Entwicklung der Wahlbeteiligung in Prozent, a.a.O.
Der allgemeine Trend beim Rückgang der Wahlbeteiligung betraf seit 1999 auch die Sozialversicherungswahlen. Gleichzeitig wurde die öffentliche Kritik an den Sozialwahlen lauter. Insbesondere wurde die demokratische Legitimation hinterfragt, immer wieder wurden vermeintlich hohe Wahlkosten und mangelnde Transparenz beanstandet.
„Wir wollen die Selbstverwaltung stärken und gemeinsam mit den Sozialpartnern die Sozialwahlen modernisieren.“ So lautet der Auftrag aus dem Koalitionsvertrag für die 19. Wahlperiode 5 5 „Ein neuer Aufbruch für Europa, eine neue Dynamik für Deutschland, ein neuer Zusammenhalt für unser Land“ – Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode, S. 51, Zeile 2325-2326). bezüglich der sozialen Selbstverwaltung und der Sozialversicherungswahlen. Anders als der Vorgängervertrag 6 6 „Deutschlands Zukunft gestalten“ Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode, S. 53.Zum Koalitionsvertrag , der die Umsetzung konkreter Maßnahmen und die Einführung von Onlinewahlen forderte, enthält dieser Koalitionsvertrag keine Vorgaben zu den inhaltlichen Schwerpunkten. Aus den Erfahrungen der 18. Legislaturperiode, die seitens der Fraktionen nur die Option „Komplettlösung mit allen Reformelementen“ vorsah, wurden die Onlinewahlen als Reformelement zunächst bewusst vom restlichen „Modernisierungspaket“ abgekoppelt, um die Reform voranzubringen.
2. 10-Punkte-Papier der Bundeswahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen 7 7 Die Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen und ihr Stellvertreter, 10-Punkte-Programm zur Reform des Sozialwahlrechtes - 29.1.2018.
Das noch vor Abschluss des Koalitionsvertrages entwickelte 10-Punkte-Programm der Bundeswahlbeauftragten greift bekannte Themen auf, die schon der Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode vorsah – z.B. mehr Transparenz bei der Listenaufstellung, eine Geschlechterquote und Freistellungsregelungen, die die Ausübung des Ehrenamtes erleichtern sollen. Das Papier wurde im politischen Raum und innerhalb der Selbstverwaltung intensiv und kontrovers diskutiert und setzte damit Modernisierungsbestrebungen erneut in Gang.
In Abb.1 sind die Empfehlungen der Bundeswahlbeauftragten dargestellt.
Abb.1: Empfehlungen der Bundeswahlbeauftragten
Punkt 1: Einführung von Onlinewahlen ab den Sozialwahlen 2023
„Ab den Sozialwahlen 2023 müssen auch Onlinewahlen möglich sein. Onlinewahlen sollen bei wählenden Versicherungsträgern 2023 als Alternative zur Briefwahl angeboten werden. Hierzu müssen Gesetz- und Verordnungsgeber rechtzeitig die rechtlichen Weichen stellen.“
Punkt 2: Einführung eines rechtlich definierten Verfahrens bei der Listenaufstellung und des Nachrückens
„Per Gesetz und Verordnungen müssen Mindestvorschriften für die Aufstellung von Vorschlagslisten definiert werden. Ein Mitglied des Listenträgers muss mit seiner Unterschrift an Eides statt versichern, dass die Regeln für die Listenaufstellung eingehalten worden sind. Scheiden ordentliche Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane aus, darf nur eine/ein Kandidat/in nachrücken, der/die sich auf der betreffenden Vorschlagsliste befindet.“
Punkt 3: Reduzierung der Anzahl der notwendigen Unterstützerunterschriften
„Die Mindestanzahl der vorzulegenden Unterstützerunterschriften, die Voraussetzung für das Einreichen einer Vorschlagsliste ist, müssen um 50 Prozent abgesenkt werden.“
Punkt 4: Unterstützerunterschriften können auch von Mitgliedern anderer Rentenversicherungsträger kommen
„Die Unterstützerunterschriften, die bei Rentenversicherungsträgeren zum Einreichen einer Vorschlagsliste berechtigen, müssen nicht mehr ausschließlich vom betreffenden Versicherungsträger kommen. Es genügt, wenn die Personen, die eine Unterstützerunterschrift leisten, bei einem der 16 Rentenversicherungsträger ein Versichertenkonto haben. Die betreffende Regelung muss auch auf die Arbeitgeberseite übertragen werden.“
Punkt 5: Versicherungsträger in der Listenbezeichnung
„Alle Vorschlagslisten – mit der Ausnahme der freien Listen – erhalten die Möglichkeit, in ihrer Listenbezeichnung den Versicherungsträger aufzunehmen. Beispiel: IG Metall in der Deutschen Rentenversicherung Bund.“
Punkt 6: Verbot der Listenzusammenlegung nach dem Einreichen
„Vorschlagslisten dürfen nach dem Einreichen beim Wahlausschuss nicht mehr zusammengelegt werden.“
Punkt 7: Freistellungsregelungen für ehrenamtliche Tätigkeit und Weiterbildung präzisieren
„Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten einen gesetzlichen Anspruch auf Freistellung von der Arbeit im Umfang von 5 Tagen im Jahr für Weiterbildung. Der Anspruch auf Freistellung für die Teilnahme an Sitzungen der Selbstverwaltungsorgane – einschließlich der Vorbesprechungen – sowie an den Sitzungen der Wahlausschüsse muss präzisiert werden.“
Punkt 8: Einheitliche steuerrechtliche Bewertung der Aufwandentschädigung der Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane sowie Nichtberücksichtigung der Aufwandentschädigung als Hinzuverdienst bei Rentenbezug
„Die Aufwandentschädigungen der Mitglieder der Selbstverwaltungen müssen steuerrechtlich einheitlich bewertet werden. Aufwandentschädigungen der Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane sollen bei Renten, nach Ablauf der Übergangsregelung, nicht als Hinzuverdienst berücksichtigt werden.“
Punkt 9: Berücksichtigung von Frauen bei der Listenaufstellung
„Eingereichte Vorschlagslisten dürfen von den Wahlausschüssen nur dann zur Sozialwahl bei dem betreffenden Versicherungsträger zugelassen werden, wenn mindestens ein Drittel der Kandidatinnen und Kandidaten Frauen/Männer sind.“
Punkt 10: Beauftragte für die Soziale Selbstverwaltung
„Die/der „Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen“ wird zur/zum „Bundesbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen und die Soziale Selbstverwaltung“.“
3. Das Gesetz – die wichtigsten Neuerungen im Überblick
Ziele der Reform sind vor allem die Stärkung der Selbstverwaltung, die Steigerung des Bekanntheitsgrads der Sozialversicherungswahlen, eine höhere Wahlbeteiligung, mehr Transparenz sowie den Frauenanteil in der Selbstverwaltung zu erhöhen. Fast alle Empfehlungen des 10-Punkte-Katalogs der Bundeswahlbeauftragten finden sich entweder ganz oder zumindest modifiziert in der Reform wieder.
3.1 Onlinewahlen in der Sozialversicherung
Da noch offene verfassungsrechtliche Fragen geklärt werden sollten, hatte sich das federführende Bundesministerium für Arbeit und Soziales dazu entschlossen, den Themenkomplex Machbarkeit von Onlinewahlen in allen Zweigen der Sozialversicherung von den anderen Modernisierungsmaßnahmen abzutrennen. Die Machbarkeit von Onlinewahlen bei den Sozialversicherungswahlen sollte separat eingehend geprüft werden. Gleichzeitig wurde auf Bestreben der Politik bereits mit dem Siebten Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 12.6.20208 8 8 BGBl. I, S. 1248. die ersten Grundlagen in Richtung Online-Wahl geschaffen. Mit dem Gesetz eröffnet der Gesetzgeber im Rahmen eines Modellprojekts zumindest den gesetzlichen Krankenkassen einmalig für die Sozialversicherungswahl 2023 die Möglichkeit, alternativ zur brieflichen Stimmabgabe auch online zu wählen. Voraussetzung hierfür ist eine entsprechende Satzungsregelung jeder teilnehmenden Krankenkasse. Gleichzeitig wurden die im Vierten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) festgeschriebenen Wahlgrundsätze um den Wahlgrundsatz der Öffentlichkeit ergänzt. An dem Modellprojekt beteiligen sich insbesondere die Ersatzkassen. Für die Teilnahme an dem Projekt müssen Krankenkassen ihre Satzung entsprechend ändern. Die für die Vorbereitung und Durchführung der Sozialversicherungswahlen–Online eingerichtete Arbeitsgemeinschaft (ARGE), in denen die am Projekt teilnehmenden Kassen vertreten sind, hat im Herbst 2020 ihre Arbeit aufgenommen. Das Modellprojekt wird wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Es dient dazu, Erfahrungen zu sammeln, ob eine Onlinewahl eine sichere Zukunft hat und ggf. in allen Zweigen der Sozialversicherung ermöglicht werden kann. Inwieweit die Onlinewahlen auch die Attraktivität und damit die Wahlbeteiligung an den Sozialversicherungswahlen positiv beeinflussen werden, bleibt spannend.
3.2 Dokumentationspflicht bei der Listenaufstellung
Das Gesetz 9 9 Gesetz zur Verbesserung der Transparenz in der Alterssicherung und der Rehabilitation sowie zur Modernisierung der Sozialversicherungswahlen (Gesetz Digitale Rentenübersicht) vom 11.2.2021, BGBl. I, S. 154. verpflichtet die Vorschlagsberechtigten, über die Bewerberaufstellung eine Niederschrift zu fertigen. Aus der Niederschrift muss eindeutig hervorgehen, nach welchen Kriterien die Bewerber ausgewählt wurden. Die Niederschrift muss mindestens Angaben darüber enthalten, wer zum Einreichen von Bewerbervorschlägen aufgerufen wurde, in welcher Form der Aufruf erfolgt ist, durch welches nachvollziehbare Verfahren aus den Bewerbern die Vorschlagsliste erstellt worden ist, durch welches nachvollziehbare Verfahren die Reihenfolge der Bewerber festgelegt worden ist, und welches Verfahren im Fall eines Ausscheidens eines Mitglieds einer Vertreterversammlung oder eines Verwaltungsrates angewandt wird 10 10 Zu den Anforderungen im Einzelnen s. §15 Abs. 4a SVWO i.d.F. des Gesetzes Digitale Rentenübersicht. . In der Renten- und Unfallversicherung haben die Träger darüber hinaus eine Begründung aufzunehmen, wenn die gesetzlich geforderte Geschlechterquote oder die Reihenfolge der Bewerber auf der Vorschlagsliste nicht eingehalten wird. Die Niederschrift ist zusammen mit der Vorschlagsliste beim Wahlausschuss des Sozialversicherungsträgers einzureichen und durch den Versicherungsträger zu veröffentlichen. Diese Regelung dient der Transparenz und stellt sicher, dass auch die innerorganisatorische Aufstellung der Listenbewerber nach demokratischen Grundsätzen erfolgt. Irritierend ist allerdings der gesetzlich vorgesehene Veröffentlichungszeitpunkt der Niederschrift. Die Niederschrift ist zusammen mit der Vorschlagsliste nach dem Ablauf der Mängelbeseitigungsfrist – und damit noch während der Zulassungsprüfung der Vorschlagslisten – zu veröffentlichen. Die Veröffentlichung suggeriert dem Wähler, dass die Vorschlagsliste zur Wahl zugelassen ist, was sie faktisch noch nicht ist. Denn die Zulassung der Vorschlagslisten erfolgt regelmäßig mindestens zwei Wochen später. In dieser Zeit besteht für den Wähler ein Spannungsfeld und es ist nicht auszuschließen, dass Vorschlagslisten veröffentlicht werden, die später nicht die Zulassung zur Wahl erhalten.
Die Dokumentationspflicht ist eine Kompromisslösung, die mit Unterstützung der Sozialpartner entwickelt wurde. Sie bleibt hinter den Forderungen der Bundeswahlbeauftragten (Punkt 2 der Vorschläge) zurück. Insbesondere wurde eine Listenbindung bei Ausscheiden eines Selbstverwaltungsmitglieds abgelehnt. Das hätte bedeutet, dass beim Aufrücken einer in die Vertreterversammlung gewählten Person in den Vorstand oder bei Ausscheiden eines Selbstverwaltungsmitglieds in der laufenden Wahlperiode die Nachfolge zunächst nur aus der ursprünglichen Vorschlagsliste ausgewählt werden darf.
3.3 Reduzierung des Unterschriftenquorums
Das Gesetz sieht vor, das Unterschriftenquorum auf maximal 1 000 einzuholende Unterschriften – und damit teilweise um mehr als die Hälfte – zu senken. Damit wird Vorschlagslisten, also auch freien Listen (Versicherte, Selbständige ohne fremde Arbeitskräfte und Arbeitgeber), der Zugang zu den Wahlen erleichtert und die Möglichkeit der Wahlen mit Wahlhandlung erweitert.
3.4 Versicherungsträger in der Listenbezeichnung
Bisher durften Vereinigungen ihre Vorschlagslisten lediglich mit dem satzungsgemäßen Namen der Vereinigung bezeichnen. Freie Listen durften nur Eigennamen von Personen, die auf ihren Listen kandidieren, in der Listenbezeichnung führen. Künftig sind für alle Vorschlagslisten Listenbezeichnungen mit nachgestellten Namenszusätzen, die den Versicherungsträger bezeichnen, zulässig. Damit sollen eventuelle Benachteiligungen – insbesondere freier Listen und Gewerkschaften – gegenüber solchen Vereinigungen, deren satzungsgemäße Namen Namenszusätze des Versicherungsträgers enthalten, ausgeglichen werden. Zudem ist für die Wählerinnen und Wähler – insbesondere bei der Vielfalt der Sozialversicherungsträger – leichter erkennbar, bei welchem Sozialversicherungsträger die konkrete Vorschlagsliste kandidiert.
3.5 Verkürzung der Frist für Listenzusammenlegungen
Listenzusammenlegungen werden ab der Sozialwahl 2023 nur noch bis zum Ende der Listeneinreichungsfrist ermöglicht. Um Listenzusammenlegungen nicht zu erschweren, muss der Wahlausschuss Auskunft darüber geben, welche Listenträger Vorschlagslisten eingereicht haben. Indem so strategische Listengestaltungen erschwert werden, soll die Zunahme von Urwahlen gefördert werden. Auch soll den Wählern die Zulassung von Vorschlagslisten zur Wahl transparenter und verständlicher gemacht werden.
3.6 Gesetzlicher Freistellungsanspruch für die Ausübung der ehrenamtlichen Tätigkeit und für Weiterbildung
Mit dem Gesetz 11 11 Gesetz zur Verbesserung der Transparenz in der Alterssicherung und der Rehabilitation sowie zur Modernisierung der Sozialversicherungswahlen (Gesetz Digitale Rentenübersicht), a.a.O. wird ein Freistellungsanspruch für die Ausübung der ehrenamtlichen Tätigkeit – der über das bereits gesetzlich verankerte Benachteiligungsverbot hinausgeht – per Gesetz geregelt. Außerdem wird zur Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen, die für eine ordnungsgemäße Ausübung des Ehrenamtes förderlich sind, ein zusätzlicher Urlaubsanspruch an bis zu fünf Arbeitstagen pro Kalenderjahr gewährt. Das Ehrenamt erfährt durch diese Maßnahmen eine zusätzliche Stärkung. Neu regelt das Gesetz auch, dass die Selbstverwaltungen der Versicherungsträger die Inhalte der Fortbildungsmaßnahmen bestimmen, um eine zielgerichtete Qualifizierung der ehrenamtlich Tätigen sicherzustellen. Eine qualitativ hochwertige Ausstattung und Zuarbeit für die Selbstverwalter werden bereits gegenwärtig in der Deutschen Rentenversicherung durch die Selbstverwaltungsbüros der einzelnen Träger als Servicestellen sichergestellt.
3.7 Geschlechterquote
Ein bedeutsamer Schritt ist die Einführung einer Geschlechterquote. Um den Anteil von Frauen in den Vertreterversammlungen und Vorständen der Renten- und Unfallversicherungsträger zu erhöhen, wird eine Regelung eingeführt, wonach Frauen und Männer bei der Aufstellung einer Vorschlagsliste möglichst zu jeweils mindestens 40 % berücksichtigt werden sollen; das gilt für Mitglieder und stellvertretende Mitglieder gleichermaßen. Um den Frauenanteil in den Selbstverwaltungsorganen auch tatsächlich zu erhöhen, soll außerdem der Frauenanteil bei der Listenaufstellung so verteilt werden, dass von jeweils drei aufeinanderfolgenden Listenplätzen mindestens ein Listenplatz mit einer Frau zu besetzen ist. Rechnerisch kompliziert wird die Umsetzung der Regelung bei der Wahl kleiner Gremien. Der Gesetzgeber löst das Problem, indem er in der Gesetzesbegründung 12 12 „BT-Drucks. 19/23550, S. 92. vorgibt, dass anteilige Quotenergebnisse kaufmännisch zu runden sind. Scheiden weibliche Selbstverwaltungsmitglieder oder weibliche Stellvertretungen aus, soll auch die Nachfolge weiblich sein; ein Abweichen ist schriftlich zu begründen. Damit soll sichergestellt werden, dass der Frauenanteil in den Selbstverwaltungsorganen im Lauf der Wahlperiode möglichst stabil bleibt.
- Praktische Umsetzung
Die praktische Umsetzung der Geschlechterquote sowie die Umsetzung der Reihenfolge der Sitzverteilung sind abhängig davon, wie viele Plätze auf der Liste tatsächlich besetzt werden. Verdeutlicht wird das nachfolgend am Beispiel des Vorstandes der Deutschen Rentenversicherung Bund: Gewählt werden acht Personen – vier Versicherten- und vier Arbeitgebervertreter – getrennt nach Gruppen. Liegen z.B. – wie bei der Sozialversicherungswahl 2017 – zwei Vorschlagslisten mit jeweils zwei Bewerberinnen und Bewerbern mit Listenstellvertretung (2 + 4) vor, ergibt sich folgender Frauenanteil:
Bei einer Vorschlagsliste mit 2 kandidierenden Personen ergibt sich rechnerisch 0,8, nach kaufmännischer Rundung 1. Die Liste soll mindestens mit einer Frau besetzt werden. Für die Stellvertretung mit 6 Kandidatinnen und Kandidaten ergibt sich rechnerisch 2,4, d.h., die Positionen der Stellvertretung sollen mindestens mit 2 Frauen besetzt werden. Dabei soll jeweils die gesetzlich geforderte Reihenfolge eingehalten werden.
- Sanktionen bei Nichteinhalten der Geschlechterquote oder der Reihenfolge auf der Vorschlagsliste?
Wird die Quote oder die Verteilung nicht eingehalten, muss das jeweils begründet werden; die Begründung ist in die Niederschrift über die Bewerberaufstellung aufzunehmen (s.o. Punkt 2.). Fehlt die Begründung, kann diese noch bis zum Ablauf der Mängelbeseitigungsfrist (zur Wahl der Vertreterversammlung) bzw. in der Sitzung, in der über die Zulassung der Listen entschieden wird (zur Vorstandswahl), nachgereicht werden. Andernfalls ist die Vorschlagsliste ungültig.
- Geschlechterquote in der gesetzlichen Krankenversicherung
Mit dem Gesetz für bessere und unabhängigere Prüfungen (MDK-Reformgesetz) vom 14.12.2019 13 13 BGBl. I, S. 2789. gilt schon seit dem 1.1.2020 eine Geschlechterquote in der gesetzlichen Krankenversicherung. Bei der Aufstellung von Vorschlagslisten für die Wahl der Verwaltungsräte sind Männer und Frauen mindestens zu jeweils 40 % zu berücksichtigen. Wird die Belegungsquote nicht erfüllt, ist die Vorschlagsliste als ungültig zurückzuweisen. Die Nichteinhaltung der gesetzlichen Quote stellt damit einen absoluten Ungültigkeitsgrund dar. Eine Nachbesserungsmöglichkeit oder eine Begründungspflicht nach Ablauf der Listeneinreichungsfrist beim Verfehlen der Quote hat der Gesetzgeber bei der Wahl der Verwaltungsräte nicht vorgesehen.
- Fazit
Zur Abbildung der Versichertenverteilung in den Organen und Gremien der Sozialversicherungsträger ist eine gesetzliche Quote bei der Aufstellung der Vorschlagslisten zu den Wahlen der Selbstverwaltungsorgane grundsätzlich wichtig. Die Einführung der Soll-Vorschrift in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung steht zwar in ihrer Wirkung der Quotenregelung in der gesetzlichen Krankenversicherung nach. Mit dieser eher zurückhaltenden Regelung setzt der Gesetzgeber dennoch ein wichtiges Zeichen für die Berücksichtigung von mehr Frauen in den Selbstverwaltungsgremien. Gleichzeitig berücksichtigt er die Schwierigkeiten, insbesondere in der Unfallversicherung vor allem in traditionellen Männer-Berufsfeldern genügend Bewerberinnen vorzufinden. Mit der neuen gesetzlichen Quotenregelung konnte im Hinblick auf die Umsetzungsprobleme eine einvernehmliche Lösung gefunden werden. Der erste Schritt in die richtige Richtung ist damit getan. Langfristig ist es dennoch wünschenswert, einheitliche Regelungen für alle Sozialversicherungsträger in allen Sozialversicherungszweigen anzustreben und die Regelungen zur Geschlechterquote, die bereits für die Vorschlagslisten zur Wahl der Verwaltungsräte gilt, mindestens auch auf die Vorschlagslisten für die Wahl der Vertreterversammlungen auszuweiten.
3.8 Verstärkte Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen
Das Gesetz räumt den Bundeswahlbeauftragten Befugnisse zur verstärkten Öffentlichkeitsarbeit ein, indem gesetzlich geregelt wird, dass die Bundeswahlbeauftragten die Wahlberechtigten regelmäßig über den Zweck der Sozialversicherungswahlen informieren sollen. Der Vorschlag der Bundeswahlbeauftragten, einen Beauftragten oder eine Beauftragte für die soziale Selbstverwaltung einzuführen, wird damit abgelehnt.
3.9 Vernichtung von Wahlunterlagen
Grundsätzlich werden Wahlunterlagen bis zum Ablauf der Amtszeit der gewählten Organe aufbewahrt. Wahlausweise, Stimmzettel, Stimmzettelumschläge und Wahlbriefumschläge konnten bisher schon zwei Monate nach Ablauf der Frist für eine Wahlanfechtungsklage, im Falle einer Klage erst frühestens zwei Monate, nachdem die Entscheidung über die Wahlanfechtung rechtskräftig geworden ist, vernichtet werden.
Eine Wahlanfechtungsklage gegen die Deutsche Rentenversicherung Bund zur Sozialversicherungswahl 2017 führte dazu, dass knapp neun Millionen Stimmzettel und Wahlbriefumschläge nach Ablauf der Wahl am 31.5.2017 bis April 2020 datenschutzgerecht aufgrund der Masse mit viel Aufwand – auch finanziell – nur extern aufbewahrt werden konnten. Daher ist die neue Regelung, die eine vorzeitige Vernichtung von Wahlunterlagen im Streitfall ausnahmsweise zulässt, ausdrücklich zu begrüßen. Sie kann besonders in der praktischen Umsetzung eine Rolle spielen. Damit kann die Aufbewahrung von Wahlunterlagen entfallen, sofern diese nicht als Beweismittel im Gerichtsverfahren entscheidungserheblich sind. Nicht ohne Fragen bleibt, dass über die Vernichtung der Wahlunterlagen die zuständigen Wahlbeauftragten zu entscheiden haben. Sachdienlich wäre es eher, die Entscheidung darüber bei dem Gericht anzusiedeln, das im Streitfall mit dem Sachverhalt befasst ist. Hier liegt auch die Kompetenz, um zu beurteilen, ob bei dem vorgetragenen Sachverhalt die Wahlunterlagen als Beweismittel vorgehalten werden müssen.
3.10 Anpassung der Anlagen zur Wahlordnung für die Sozialversicherung (SVWO)
Die Anlagen zur SVWO wurden redaktionell überarbeitet. Daneben findet sich mit der Anpassung des Musters der Unterstützerliste bei den Trägern der Rentenversicherung (RV-Trägern) und der Krankenversicherung (Anl. 3 SVWO) eine eher unscheinbare Änderung, von allerdings großer praktischer Bedeutung. Müssen Vorschlagslisten von einer bestimmten Anzahl von Personen unterzeichnet sein (Unterstützerliste), sind diese Unterschriften in der Rentenversicherung (RV) nach dem Muster der Anl. 3 SVWO beizubringen. Die Unterschriften sind nur dann gültig und zu berücksichtigen, wenn die unterstützende Person beim RV-Träger versichert ist.
Zur Sozialversicherungswahl 2017 häufte sich die Frage, ob Versicherte in der RV neben Name und Anschrift auch Geburtsdatum und Versicherungsnummer angeben müssen, damit sie als gültige Unterstützer gezählt werden können oder ob die Angabe des Geburtsdatums genügt. Die maßgebliche Anlage zur SVWO gibt an dieser Stelle Raum zur Auslegung. Diese Vorschrift war historisch mit dem hohen Aufwand der Ermittlung der Versicherten zu erklären. Heute kann dies digital schneller und einfacher überprüft werden.
Zur Klarstellung und Rechtssicherheit für die Vorschlagslisten wird die entsprechende Anl. 3 zur SVWO auf Empfehlung der Deutsche Rentenversicherung Bund angepasst. Aufgrund des Fortschritts in der digitalen Umsetzung genügt mittlerweile die Angabe des Geburtsdatums für eine schnelle und eindeutige Überprüfung der Wahlberechtigung.
Künftig geht aus der Anlage eindeutig hervor, dass die Angabe des Geburtsdatums ausreicht. Denn die auf der Unterstützerliste beizubringenden Daten dienen einzig der Klärung, ob die Unterstützenden Versicherte des Sozialversicherungsträgers sind, bei dem die Vorschlagsliste kandidieren möchte.
Dazu gibt die Bereichsnummer als Teil der Versicherungsnummer – im Zuge des Ausgleichsverfahrens zwischen den RV-Trägern und der Aufhebung der Trägerzuordnung nach Angestellten und Arbeitern – keinen zuverlässigen Aufschluss mehr über den zuständigen RV-Träger. Auch ist davon auszugehen, dass nicht jeder potentielle Unterstützer bei der Unterschriftensammlung seine vollständige Sozialversicherungsnummer parat hat, das Geburtsdatum dagegen schon. Die Unterschriftensammlung wurde durch die zwingende Angabe der Versicherungsnummer unnötig erschwert.
4. Sozialversicherungswahlen 2023 – ein Ausblick
Mit dem Gesetz Digitale Rentenübersicht werden längst überfällige Modernisierungsmaßnahmen umgesetzt. Nicht alle Erwartungen wurden erfüllt, nicht alle Forderungen verwirklicht. Trotzdem werden die Sozialversicherungswahlen 2023 alle Beteiligten – die Sozialversicherungsträger, die Selbstverwaltungen und die Versicherten und Arbeitgeber – vor neue Herausforderungen stellen und neue Fragen aufwerfen:
- Wie wird sich das herabgesetzte Unterschriftenquorum auswirken – wird es mehr Urwahlen geben?
- Wie werden die Vorschlagslisten mit der Geschlechterquote umgehen?
- Wird die Dokumentationspflicht der Vorschlagslisten das Wahlverhalten positiv beeinflussen?
- Werden die Online-Wahlen bei den Krankenkassen die Sozialwahl in der RV beeinflussen?
Im Ergebnis wird ein neuer Prozess gestartet, der es möglich macht, die neuen Errungenschaften kritisch zu bewerten und wenn nötig, auch weiterzuentwickeln. Die Vorbereitungen sowie den Ausgang der nächsten Sozialversicherungswahlen im Jahr 2023 werden sicherlich mit Spannung verfolgt.