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Rechtsprechungsrückblick: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts mit verfassungsrechtlichen Bezügen

RVaktuell 1/2023
Der Rückblick der RVaktuell auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) beginnt in dieser Ausgabe mit dem Blick auf die für die gesetzliche Rentenversicherung (RV) besonders interessanten Entscheidungen des BSG mit verfassungsrechtlichen Erwägungen und auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG).
Ulrike Kumpfert ist Mitarbeiterin im Dezernat 3001 (Strategie und Koordination) der Grundsatzabteilung der Deutschen Rentenversicherung Bund.

1. Rechtsprechung des BVerfG

Mit dem Beschluss über Verfassungsbeschwerden und über eine Vorlage des Sozialgerichts Freiburg hat das BVerfG (Beschluss vom 7.4.2022, Az.: 1 BvL 3/18, 1 BvR 2824/17 u.a.) eine Entscheidung zu einem bereits seit langem diskutierten und auch in der Rechtsprechung präsenten Thema getroffen. Es geht um die sog. Elternbeiträge zur Sozialversicherung, also um die Frage, ob und inwieweit der generative Beitrag, den Eltern mit der Betreuung und Erziehung von Kindern zum Bestand und zur Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung leisten, bei der Höhe der von ihnen zu leistenden monetären Beiträge zu berücksichtigen ist.

Diese Rechtsfrage wurde zuvor durch das BSG (vgl. Urteil vom 30.9.2015, Az.: B 12 KR 15/12 R, BSGE 120, 23, Urteil vom 20.7.2017, Az.: B 12 KR 14/15 R und Urteil vom 21.3.2018, Az.: B 13 R 19/14 R) unter verschiedenen Blickwinkeln verneint.

Im Mittelpunkt der Diskussion der letzten Jahre stand das sog. Pflegeversicherungsurteil des BVerfG vom 3.4.2001 (Az.: 1 BvR 1629/94, BVerfGE 103, 242), wonach aufgrund von Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) mit der Kindererziehung ein generativer Beitrag von Eltern zur sozialen Pflegeversicherung (PflegeV), die nur durch nachwachsende Generationen funktioniere, in die Beitragsbemessung einzubeziehen war. In der Folge wurde in § 55 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) ein Beitragszuschlag für die Mitglieder der sozialen PflegeV, die das 23. Lebensjahr vollendet haben und kinderlos sind, festgelegt. Dieser beträgt seit dem 1.1.2022 0,35 Beitragssatzpunkte.

Mit dem aktuellen Beschluss stellt nun das BVerfG fest, dass die gleiche Betragsbelastung von beitragspflichtigen Eltern in der sozialen PflegeV unabhängig von der Anzahl der von ihnen erzogenen Kinder gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Es handelt sich um eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem, die nach verfassungsrechtlichen Maßstäben, insbesondere unter Beachtung des Freiheitsrechts des Art. 6 Abs. 1 GG, nicht gerechtfertigt ist. Der Gesetzgeber hat bis zum 31.7.2023 eine Neuregelung zu schaffen, die eine Staffelung der Beiträge zur sozialen PflegeV nach der Anzahl der Kinder vorsieht. Das BVerfG trifft eine sehr dezidierte Entscheidung, mit der der Erste Senat auch klar darlegt, dass eine Berücksichtigung des Erziehungsaufwands von Eltern im Beitragsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung (KV) und der gesetzlichen RV verfassungsrechtlich nicht geboten ist. Diese Frage hatte das BVerfG in der Entscheidung vom 3.4.2001 noch der weiteren Betrachtung durch den Gesetzgeber überantwortet.

In die aktuelle Entscheidung führt das BVerfG in einem Sachbericht mit ausführlicher Darstellung zu Verfasstheit, Versichertenstruktur, Finanzierung und familienbezogenen Leistungen der drei Versicherungszweige der gesetzlichen KV, der gesetzlichen RV und der soziale PflegeV ein.

Insbesondere Fragen der Differenzierung zwischen Gleichbehandlung und Ungleichbehandlung und deren Rechtfertigung im Einzelnen stehen im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Ausführungen des BVerfG zur Begründetheit.

Werden Beiträge zur Sozialversicherung erhoben, so ist das Gebot der Belastungsgleichheit durch den Gesetzgeber zu beachten. Dieses folgt aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber ist dabei nicht gehalten, jegliche mögliche Differenzierung umzusetzen; jedoch hat er die Ungleichheiten des zu ordnenden Lebenssachverhalts zu beachten, die eine Differenzierung aufgrund ihrer Bedeutsamkeit erfordern. Hier wirkt sich die formale Belastungsgleichheit – alle zur sozialen PflegeV beitragspflichtigen Eltern unterliegen einem einheitlichen Beitragssatz – erst aufgrund von tatsächlichen Umständen des Lebenssachverhalts als eine ungleiche Belastung innerhalb der Elterngruppe aus. Hier ist die Abgrenzung zu einer bereits normativ veranlassten Ungleichheit trotz gleicher formaler Belastung zu treffen (zu dieser Abgrenzung auch BVerfGE 149, 50, 78 f.; offengelassen von BSGE 120, 23). Daher ordnete das BVerfG den Sachverhalt als eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem ein.

Das BVerfG stellt dabei darauf ab, dass in Abhängigkeit von der Anzahl der zu erziehenden und zu betreuenden Kinder der wirtschaftliche Aufwand für die Eltern ansteigt.

Ein höheres Armutsrisiko von Eltern mit mehreren Kindern ist dagegen nicht als gleichheitsrechtlich relevanter Nachteil heranzuziehen, denn im Bereich der Beitragserhebung zur Sozialversicherung stellt das Bruttoeinkommen einen zulässigen Anknüpfungspunkt dar; das Armutsrisiko müsse vielmehr beim allgemeinen Familienlastenausgleich berücksichtigt werden, so das BVerfG. Eltern tragen jedoch neben der Beitragspflicht zur Sozialversicherung auch den wirtschaftlichen Aufwand der Kindererziehung. Dieser setzt sich aus den tatsächlichen (Konsum-)Aufwendungen, dem sog. Realaufwand, und den Opportunitätskosten, d.h. den entgangenen Erwerbs- und Versorgungschancen, zusammen. Selbst wenn man die in den vergangenen Jahren festzustellenden Anstrengungen zur Besserstellung von kindererziehenden Personen berücksichtigt, so steigen doch statistisch belegbar, wie das BVerfG darlegt, mit der Kinderzahl sowohl der Realaufwand als auch die Opportunitätskosten an. Insbesondere die Opportunitätskosten der Kindererziehung aufgrund fehlender oder nur in Teilzeit ausgeübter Erwerbstätigkeit und entgangener Karrierechancen von Eltern wirken sich dabei über die gesamte Erwerbstätigkeit hinweg aus.

Im Ergebnis stellt das BVerfG fest, dass Eltern mit mehreren Kindern – bereits ab einschließlich dem zweiten Kind – durch die gleiche Beitragsbelastung gegenüber Eltern mit nur einem Kind in spezifischer Weise benachteiligt werden. Eine hinreichende Kompensation im System der sozialen PflegeV ist vor allem angesichts des sehr geringen Risikos einer Pflegebedürftigkeit von Kindern nicht dagegenzuhalten.

Schließlich ist diese Benachteiligung durch die gleiche Beitragsbelastung nicht gerechtfertigt. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG (vgl. BVerfGE 138, 136, 180 f.; BVerfGE 148, 147, 183 f.) erfordert eine Ungleichbehandlung je nach Gegenstand und Differenzierungsmerkmalen einen unterschiedlichen Grad der Rechtfertigung durch einen Sachgrund, von einer bloßen Willkürprüfung bis hin zu einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung, u.a. bei Berührung eines Freiheitsrechts. Auch ist erheblich für den Schärfegrad der Anforderungen der verfassungsrechtlichen Prüfung, inwieweit die Differenzierungsmerkmale, an die die gesetzliche Vorschrift anknüpft, für Einzelne beeinflussbar sind oder sich die Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmalen annähern. Diese Kriterien sind ebenfalls maßgebend, sofern, wie hier, eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem auf dem Prüfstand steht.

Im vorliegenden Fall sind im Hinblick auf die Betroffenheit des Sachbereichs des Art. 6 Abs. 1 GG – Ehe und Familie – strengere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Gleichheitsrechts zu stellen, so das BVerfG. Nicht verschärfend wirkt allerdings die Betroffenheit der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG, die allgemein vor einer staatlich auferlegten Geldleistungs- oder Beitragspflicht schützt, die nicht der verfassungsmäßigen Ordnung entspricht (vgl. BVerfGE 158, 282, 330).

Dabei betont das BVerfG den großen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum, der dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Beitragsrechts offensteht. Die Entlastung der einen Gruppe muss nicht durch eine Belastung der Vergleichsgruppe erreicht werden. Auch eine Steuerfinanzierung steht im gesetzgeberischen Ermessen; das BVerfG entkräftet damit das Argument, wonach die Steuerfinanzierung von Familienentlastungen aufgrund der gleichzeitigen Steuerpflicht von Familien kein geeignetes Instrument sei, denn das Steueraufkommen im allgemeinen Staatshaushalt ist nicht zweckgebunden und kann auch einzelnen Steuerzahlergruppen nicht zugeordnet werden.

Die nicht differenzierende Regelung ist nach diesem so definierten Maßstab darauf zu prüfen, ob sie legitimen Zwecken dient und zu deren Erreichen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne ist. Letzteres Kriterium verneint das BVerfG; der Gesetzgeber hat mit der überprüften Beitragsregelung zur sozialen Pflegeversicherung die Grenzen zulässiger Typisierung überschritten.

Zunächst befand das BVerfG jedoch die einfache Beitragsdifferenzierung zwischen kinderlosen und kindererziehenden Versicherten als legitimen Zwecken dienend (relative Entlastung von Eltern bei Sicherung von Stabilität und Finanzierbarkeit der sozialen PflegeV, Zumutbarkeit der Lastenverteilung, Umsetzbarkeit des Beitragseinzugs) sowie als geeignet zur Erreichung des Ziels. Dabei ist eine Regelung erst dann als nicht geeignet anzusehen, wenn sie den Gesetzeszweck nicht fördern kann oder sich sogar gegenläufig auswirkt (BVerfGE 158, 282, 336), was hier jedoch nicht festzustellen war.

Hinsichtlich der Erforderlichkeit einer Ungleichbehandlung prüft das BVerfG, ob kein anderes Mittel gegeben war, mittels dessen der Gesetzgeber das gesetzte Ziel unter weniger Ungleichheiten gleich wirksam fördern oder erreichen konnte, ohne dabei jedoch Dritte oder die Allgemeinheit stärker zu belasten (vgl. BVerfGE 138, 136, 189; BVerfGE 151, 101, 141). Bei der hier vorliegenden Gleichbehandlung ist die Prüfung der Erforderlichkeit darauf zu beziehen, ob eine stärker ausdifferenzierte Lösung zugunsten der bisher benachteiligten Gruppe die Regelungszwecke ohne Belastung Dritter oder der Allgemeinheit durch z. B. Steuerzuschüsse gleich wirksam erreichen könnte. Es ist aber in keinem Fall zu klären, ob der Gesetzgeber die beste Lösung gefunden hat. Die Erforderlichkeit bejahte das BVerfG hier, denn eine stärker ausdifferenzierte Regelung hätte nicht ohne Belastung anderer Gruppen oder der Allgemeinheit erfolgen können.

Ob diese Belastungen anderer dagegen nach einer Interessenabwägung hinzunehmen sind, ist der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne vorbehalten. Bei einer Gleichbehandlung in diesem Fall ist zu prüfen, ob die Bedeutung der mit der Gleichbehandlung erstrebten Ziele in einem angemessenen Verhältnis zu den Ungleichheiten des Lebenssachverhalts und dem Ausmaß der sich daraus ergebenden Nachteile der Gleichbehandlung steht. Bei einer typisierenden Regelung muss auch der mit der Typisierung durch den Gesetzgeber verfolgte Zweck einer Verwaltungsvereinfachung als Sachgrund für die Gleichbehandlung betrachtet werden. Eine Typisierung ist insoweit zulässig, als sie realitätsgerecht den typischen Fall auswählt, und daher Härten nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Personen betreffen und nicht zu intensiv wirken (ständige Rechtsprechung, siehe BVerfGE 151, 101, 146). Die Härten müssen zudem nur unter Schwierigkeiten zu vermeiden sein. Hierbei sind auch praktische Erfordernisse der Verwaltung als Begründung anerkannt. Die Familien mit zwei und mehr Kindern bilden jedoch keine kleine Gruppe innerhalb der kindererziehenden Familien in der Gesamtbevölkerung – ihr Anteil beträgt annähernd die Hälfte. Im Ergebnis ist die Gleichbehandlung der kindererziehenden Versicherten ohne Berücksichtigung der Anzahl der Kinder als nicht verhältnismäßig im engeren Sinne anzusehen. Für die Gleichbehandlung der als wesentlich ungleich beurteilten Bedingungen von Familien mit nur einem Kind im Vergleich zu Familien mit mehreren Kindern fehlt es an einer verfassungsrechtlich zulässigen Rechtfertigung.

Das Beitragsrecht der gesetzlichen RV ist dagegen im Hinblick auf die gleiche Beitragsbelastung von kindererziehenden und kinderlosen Versicherten verfassungskonform. Zwar liegt auch hier eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem vor, allerdings ist eine Benachteiligung von Eltern im Hinblick auf den Nachteilsausgleich innerhalb des Systems der gesetzlichen RV nicht festzustellen. Insbesondere Kindererziehungszeiten und Kinderberücksichtigungszeiten führen zu einer beitragswirksamen Kompensation des wirtschaftlichen Aufwands der Kindererziehung, wie das BVerfG ausführlich aufzeigt. Die additive Anerkennung von Kindererziehungszeiten neben sonstigen Beitragszeiten – bis zur Beitragsbemessungsgrenze – ermöglicht es, über eine Kompensation von Nachteilen beim Erwerb von Rentenanwartschaften hinaus, weitergehenden Aufwand der Kindererziehung auszugleichen. Die rentenrechtlichen Zeiten, die auf der Leistungsseite anerkannt werden, entsprechen zugleich einer Entlastung auf der Beitragsseite, die auch bereits in der Phase der Erziehung zugunsten von Eltern wirkt. Diese ist nicht offensichtlich unzureichend, um den durch Kinderbetreuung entstehenden Nachteil auszugleichen.

Auch das Beitragsrecht der gesetzlichen KV entspricht dem Gleichheitsgrundsatz, so das BVerfG weiter, denn die zwar bestehende Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem führt wiederum nicht zu einer Benachteiligung von Eltern. Auch hier stehen innerhalb des Systems Instrumente für einen wirksamen Nachteilsausgleich zur Verfügung. Die beitragsfreie Familienversicherung und kinder- und familienbezogene Leistungen in der gesetzlichen KV kompensieren den den Eltern entstehenden Aufwand der Kinderbetreuung hinreichend. Zu beachten ist insoweit auch, dass es nicht darauf ankommt, ob Familien mit ihrem Beitrag zur Familienversicherung als „Nettozahler“ mehr einzahlen, als sie an Leistungen in Anspruch nehmen, denn die gesetzliche KV stellt eine auf solidarischen Ausgleich gerichtete Sozialversicherung dar.

Geht es um einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG, steht dem Gesetzgeber eine Auswahl offen, in welcher Weise er die gebotene kinderzahlabhängige Beitragsdifferenzierung von Eltern umsetzen wird. Das BVerfG hat demgemäß nicht die Nichtigkeit der gleichheitswidrigen Regelung, sondern lediglich die Unvereinbarkeit der bisherigen Regelung mit Verfassungsrecht ausgesprochen. Im Hinblick auf die Verlässlichkeit der Haushaltsplanung der Sozialversicherung und des Staates sowie auf den erheblichen Aufwand bei einer vollständigen Rückabwicklung des bisherigen Beitragsrechts erklärte das BVerfG dessen befristete Fortgeltung und verpflichtete den Gesetzgeber zu einer Neuregelung der Entlastung von Eltern in Abhängigkeit von der Kinderanzahl nach Maßgabe der Kriterien der verfassungsrechtlichen Prüfung bis zum 31.7.2023.

Das Bundesministerium für Gesundheit hat mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege die Vorgaben umgesetzt. Dabei soll der Beitragszuschlag für kinderlose Versicherte um 0,25 Beitragssatzpunkte auf 0,6 Beitragssatzpunkte angehoben werden, während Versicherte mit mehreren Kindern ab dem zweiten Kind bis zum fünften Kind in Höhe von 0,15 Beitragssatzpunkten je Kind entlastet werden sollen (Bearbeitungsstand: 20.2.2023). Für die Deutsche Rentenversicherung, die den Pflegeversicherungsbeitrag von rd. 22 Millionen Rentenbeziehenden einzieht, wird es von höchster Wichtigkeit sein, dass die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben, d.h. der Nachweis der Elterneigenschaft und der Kinderanzahl zugunsten von Müttern und Vätern, einfach administrierbar ist und möglichst im digitalen Workflow ablaufen kann.

2. Rechtsprechung des BSG mit verfassungsrechtlichem Bezug

Der 1. Senat des BSG befasste sich in einem Urteil – Az.: B 1 A 2/20 R – mit grundlegenden Erwägungen zur organisatorischen und finanziellen Selbständigkeit von Sozialversicherungsträgern.

Gegenstand des Rechtsstreits waren mit § 20a Abs. 3 und 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) Vorschriften, die den GKV-Spitzenverband verpflichten, eine Vereinbarung mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) über die Beauftragung dieser abzuschließen. Die BZgA solle die gesetzlichen Krankenkassen in deren Aufgabenbereich der Gesundheitsförderung und der Prävention unterstützen. Zugleich sind im Gesetz bereits Einzelheiten der Vergütung für diese Unterstützung normiert. Die Vergütung ist auf eine Höhe von 0,45 Euro pro Versicherten festgelegt. Der Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbands hatte jedoch die Zahlung verweigert und wandte sich im Klageweg gegen die Ersatzvornahme, die das Bundesministerium für Gesundheit nach § 37 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) verfügt hatte.

Schon in früheren höchstrichterlichen Entscheidungen standen gesetzlich auferlegte Zahlungspflichten der Sozialversicherungsträger aus ihrem Beitragsaufkommen auf dem Prüfstand. Diese betrafen die Zahlungen der Arbeitslosenversicherung an den Bundeshaushalt nach § 46 Abs. 4 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) i.d.F. bis 31.12.2012 (BSGE 110, 161 sowie nachfolgend BVerfGE 149, 50).

In der jetzigen Entscheidung kam das BSG zu deutlichen Schlüssen.

Der Ersatzvornahmebescheid des Bundesministeriums für Gesundheit gegen den GKV-Spitzenverband war mangels Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig. Die allgemeinen Vorschriften zur Regelung der Aufsicht über die Sozialversicherungsträger in §§ 87 bis 89 SGB IV sahen zum hier in Rede stehenden Zeitpunkt eine Aufhebung und Ersetzung von Beschlüssen der Selbstverwaltungsorgane nicht vor. Auch § 37 SGB IV konnte nicht als Rechtsgrundlage der Maßnahmen des Bundesministeriums für Gesundheit herangezogen werden. Diese Norm setzt wörtlich eine Weigerung der Selbstverwaltungsorgane zur Führung ihrer Geschäfte voraus. Der Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes habe jedoch seine Zuständigkeit ausgeübt und über die Ausgaben im Haushaltsplan eine Entscheidung getroffen, so das BSG. Es ginge hier lediglich um die Weigerung der Ausführung eines Geschäfts in einem bestimmten, von der Aufsichtsbehörde erwarteten Sinne. Das BSG fundiert seine Ansicht im Einzelnen mit Argumenten aus Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck sowie der Entstehungsgeschichte der aufsichtsrechtlichen Vorschriften des SGB IV.

Der GKV-Spitzenverband durfte auch deshalb die Zahlung der Vergütung an die BZgA verweigern, weil das BSG die Rechtsgrundlage für Beauftragung und Vergütung der BZgA als verfassungswidrig ansieht.

Das BSG sieht in den entsprechenden Vorschriften des SGB V einen Verstoß gegen Art. 87 Abs. 2 GG. Hiernach werden diejenigen sozialen Versicherungsträger als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts geführt, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt (Art. 87 Abs. 2 Satz 1 GG). Davon abweichend werden soziale Versicherungsträger, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes, aber nicht über mehr als drei Länder hinaus erstreckt, als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts geführt, wenn das aufsichtsführende Land durch die beteiligten Länder bestimmt ist (Art. 87 Abs. 2 Satz 2 GG).

Wenn auch Art. 87 Abs. 2 GG lediglich eine Kompetenznorm darstelle und keine Bestandsgarantie für einzelne Sozialversicherungsträger oder deren gegliedertes System vermittle, so sieht das BSG doch in Art. 87 Abs. 2 GG, der Gesetzgebungskompetenz für Angelegenheiten der Sozialversicherung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 und Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG ein geschlossenes verfassungsrechtliches Regelungssystem für die Sozialversicherung und ihre Finanzierung. Das entspricht einer Systementscheidung zugunsten der Sozialversicherung durch verselbständigte Träger. Verfassungsrechtlich ist eine mittelbare Verwaltung durch organisatorisch und finanziell selbständige Körperschaften vorgegeben (vgl. BVerfGE 113, 167, 200). Der Bund darf demzufolge seinen eigenen bundesunmittelbaren Behörden keine Aufgaben der Sozialversicherung übertragen. Damit verbunden ist auch eine besondere Zweckgebundenheit der Mittel der Sozialversicherung: Beiträge dürfen nur zur Finanzierung von Aufgaben im Binnensystem der Sozialversicherung erhoben oder transferiert (BVerfGE 149, 50, 78), nicht jedoch für den allgemeinen Finanzbedarf des Staats verwendet werden (so schon BVerfGE 75, 108, 148 und BVerfGE 113, 167, 205).

Der Begriff der Sozialversicherung ist allerdings nicht streng definiert. Ihm unterfallen alle Belange, die als Frage der sozialen Sicherheit auf dem spezifischen Weg der Sozialversicherung erreicht werden sollen. Hierfür sind die gemeinsame Deckung eines möglichen und schätzbaren Bedarfs durch die Verteilung auf eine organisierte Vielheit von Beteiligten, die Mittelaufbringung durch Beiträge dieser Beteiligten sowie die organisatorische Durchführung durch selbständige Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts die kennzeichnenden Merkmale. Fragen der sozialen Sicherheit könnten auch der unmittelbaren Staatsverwaltung mit bundeseigenen Behörden aufgegeben werden – jedoch kann sich der Gesetzgeber hierfür nicht auf den der Sozialversicherung vorbehaltenen Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG berufen.

Ob die Aufgabenübertragung an die BZgA in § 20a SGB V, nämlich bezüglich Prävention und Gesundheitsförderung in Lebenswelten insbesondere von Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen, daher schon ohne die erforderliche Gesetzgebungskompetenz erfolgt wäre, ließ das BSG letztlich offen. Einen möglichen Ansatz sah das BSG zumindest darin, dass diese Aufgaben der BZgA nur auf die in der gesetzlichen KV versicherten Personen beschränkt sind und sich so möglicherweise ein hinreichender Bezug zum Kompetenztitel der Sozialversicherung herstellen ließe.

In jedem Fall fehlt es aber an der Verwaltungskompetenz des Bundes, um der BZgA als Bundes(ober)behörde die genannten Aufgaben in der Gesundheitserziehung und -aufklärung originär zuzuweisen. Eine unmittelbare Verwaltungstätigkeit des Bundes durch die Bundesoberbehörde ist durch Art. 87 Abs. 2 GG ausgeschlossen, so das BSG. Rein koordinierende Tätigkeiten könnten der BZgA auf Grundlage des Art. 87 Abs. 3 GG zugewiesen werden, doch fehlt es hierfür wiederum an der notwendigen Gesetzgebungskompetenz des Bundes für diese Materie außerhalb des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, der sich allein auf die Sozialversicherung bezieht.

Auch der Finanztransfer von Beitragsmitteln der gesetzlichen KV in den Haushalt der BZgA wird durch das BSG als verfassungswidrig angesehen, denn die Mittel würden für Zwecke außerhalb des Binnensystems der Sozialversicherung verwendet.

Schließlich stellt das BSG klar heraus, dass die einzelnen fehlenden Kompetenzen nicht dadurch ersetzt werden könnten, dass der Bund die Aufgaben zunächst der Sozialversicherung überträgt und sodann ein dauerhaftes gesetzliches Auftragsverhältnis mit einer feststehenden Vergütung zwischen der gesetzlichen KV und der BZgA anordnet. Mit dieser Konstruktion sieht das BSG die grundgesetzlichen Vorgaben – Trennung zwischen selbstverwalteter Sozialversicherung und staatlicher unmittelbarer Verwaltung, Verbot der Direktfinanzierung von staatlichen Aufgaben durch Beitragsmittel der Sozialversicherung – als umgangen an.

Zwar sieht § 93 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gesetzliche Auftragsverhältnisse als zulässig an. Diese Regelung bezieht sich jedoch ausschließlich auf Auftragsverhältnisse zwischen den Leistungsträgern der Sozialversicherung, die in den §§ 18 bis 29 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) im Einzelnen benannt werden. Hierzu gehört die BZgA als Bundesbehörde nicht.

Das Verbot der Finanzierung staatlicher Aufgaben im Bundeshaushalt durch Beitragsmittel sieht das BSG insbesondere durch die Ausgestaltung der Vergütungspflicht als verletzt an. Die Vergütung ist als pauschaler, feststehender Satz im Gesetz vorgegeben. Die Vergütungspflicht besteht unabhängig davon, in welchem Umfang und mit welchen Aufwendungen oder ob überhaupt die BZgA sich der Aufgabenerfüllung widmet. Die nicht von eigenen Aufwendungen verbrauchten Anteile der Vergütung verbleiben danach im Bundeshaushalt.

Die so begründete Verfassungswidrigkeit des § 20a Abs. 3 und 4 SGB V berechtigte den klagenden GKV-Spitzenverband, die Auszahlung der Vergütung an die BZgA zu verweigern, stellte das BSG fest. Ob Verwaltungsorgane, die gem. Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden sind, die Anwendung von als verfassungswidrig erachteten Normen aussetzen dürfen, ist zwar umstritten, doch das BSG bejaht in diesem Fall eine Prüfungs- und Nichtanwendungskompetenz zugunsten des GKV-Spitzenverbands. Diese Prüfungs- und Nichtanwendungskompetenz leitet das BSG hier aus der einfachrechtlichen Zuweisung eines Kompetenzbereichs im Rahmen der Sozialversicherung her, die gleichzeitig Schutz gegen kompetenzwidrige Maßnahmen der unmittelbaren Staatsverwaltung vermitteln soll.

Den gesetzlichen Krankenversicherungen sind im SGB V der Körperschaftsstatus sowie Selbstverwaltungsrechte zuerkannt, und somit ist ihnen eine Kompetenzsphäre eingerichtet, die verfassungsrechtlich in Art. 87 Abs. 2 GG anerkannt wird. Dieser eigene Kompetenzbereich wird durch eine auf die Rechtsaufsicht beschränkte staatliche Aufsicht bekräftigt; gegen Überschreitungen ist den Sozialversicherungsträgern der Rechtsweg mittels der Aufsichtsklage eröffnet. Das BSG folgert daraus, dass auch bei staatlichen Überschreitungen des Kompetenzgefüges des Grundgesetzes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG die Sozialversicherungsträger durch eine eigene Prüfungs- und Nichtanwendungskompetenz die als verfassungswidrig angesehenen Normen einer gerichtlichen Prüfung zuführen können müssen. Hier bedurfte es dieser besonderen Kompetenz, um das Feststellungsinteresse des klagenden GKV-Spitzenverbandes bei der Fortsetzungsfeststellungsklage – nachdem sich die ursprüngliche belastende Maßnahme schon erledigt hatte – zu bejahen.

Anderenfalls könnte Kompetenzüberschreitungen des Gesetzgebers, die sich nicht beitragsrelevant auswirken, nicht erfolgreich begegnet werden. Denn die in der Sozialversicherung versicherten Personen selbst können eine bestimmte Mittelverwendung nur gerichtlich überprüfen lassen, wenn sich diese Mittel unmittelbar auf die Höhe des Beitragssatzes auswirken (so BVerfGE 149, 50, 88; BSGE 110, 161, 169 f.).

Mit dieser Entscheidung stärkt das BSG die Selbstverwaltung und die Durchsetzbarkeit der Position der Sozialversicherungsträger.

Dass das BSG die Frage der Verfassungsgemäßheit der entsprechenden Absätze des § 20a SGB V nicht dem BVerfG gem. Art. 100 Abs. 1 GG vorgelegt hat, ist darin begründet, dass die angegriffene Maßnahme des Bundesministeriums für Gesundheit gegenüber dem GKV-Spitzenverband bereits aus anderem Grunde rechtswidrig war. Es fehlte also an der Entscheidungserheblichkeit der verfassungsrechtlichen Prüfung. Dies bedeutet aber zugleich, dass mangels Nichtigkeitsausspruchs durch das BVerfG die hier als rechtswidrig angesehenen Vorschriften des SGB V weiterhin Gültigkeit beanspruchen.

RVaktuell 1/2023
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