1. Einführung
Die Absicherung des Risikos der Erwerbsminderung gehört zu den Kernaufgaben der gesetzlichen Rentenversicherung (RV). Die 2001 in Kraft getretenen Rechtsänderungen 1 1 Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000, BGBl. I 2000, S. 1827. haben eine Diskussion darüber ausgelöst, ob das Netz der sozialen Sicherung im Fall der Erwerbsminderung noch trägt 2 2 Vgl. z.B. Rische, RVaktuell 2010, S. 2ff.; Jabben, Kolakowski, Kreikebohm, NZS 2017, 481. . Unter Hinweis auf die sinkenden Rentenzahlbeträge bei den Rentenzugängen und die steigende Quote von Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentnern, die zusätzlich zur Rente Grundsicherungsleistungen beziehen, wurde die Frage gestellt, ob die Rentenleistungen bei Erwerbsminderung noch angemessen sind. Denn rd. 15% der Rentnerinnen und Rentner, die eine volle EM-Rente beziehen, sind auf Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung angewiesen. Dieser Anteil ist rund fünfmal so hoch wie bei den Altersrenten. Auch die 2001 vorgenommene Neuausrichtung des Sicherungsziels und die damit einhergehend geregelten Anspruchsvoraussetzungen sorgten für kontroverse Diskussionen.
Der Gesetzgeber reagierte auf die Kritik eines unzureichenden Leistungsniveaus bei den EM-Renten in der Vergangenheit bereits mit mehreren Reformgesetzen und verlängerte die Zurechnungszeit für den Rentenzugang in mehreren Schritten. Die verlängerte Zurechnungszeit galt jedoch nur für die ab dem Inkrafttreten der Neuregelung jeweils neu zugehenden Renten, nicht für den Rentenbestand. Insbesondere von den Sozialverbänden wurde daher die Forderung erhoben, dass der Gesetzgeber auch für den Bestand an EM-Renten verbesserte Leistungen schaffen müsse. Mit dem Rentenanpassungs- und EM-Bestandsverbesserungsgesetz 3 3 Gesetz zur Rentenanpassung und zur Verbesserung von Leistungen für den Erwerbsminderungsrentenbestand vom 28.6.2022, BGBl. I 2022, S. 975ff. hat der Gesetzgeber diese Forderungen nach Nachbesserungen für den Erwerbsminderungsrentenbestand aufgegriffen. Nach der Neuregelung, mit dem die schrittweisen Verlängerungen der Zurechnungszeit auf den Rentenbestand übertragen wird, erhält diese Personengruppe nun pauschale Zuschläge, um die Leistungen an das Niveau der Neurenten anzugleichen.
2. Hintergrund des Gesetzes
Ein Effekt des Gesetzes zur Reform der Renten wegen Erwerbsminderung (EM-Reformgesetz 2001) war, dass die durchschnittlichen Zahlbeträge neu zugehender EM-Renten in den Folgejahren kontinuierlich sanken. Denn die mit dem EM-Reformgesetz verbundene Verlängerung der Zurechnungszeit auf das 60. Lebensjahr war, so die Annahme im Gesetzgebungsverfahren, nicht ausreichend, um für alle EM-Renten dauerhaft ein angemessenes Sicherungsniveau zu gewährleisten. Die 2007 beschlossene Anhebung der Regelaltersgrenze 4 4 Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demographische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen vom 20.4.2007, BGBl. I 2007, S. 554ff. warf zudem die Frage auf, ob sich daraus auch Auswirkungen auf die Zurechnungszeit ergeben. Denn die Zurechnungszeit soll für EM-Rentnerinnen und -rentner, die ihre Erwerbsbiographie aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen nicht vollenden können, einen adäquaten Ersatz für die unverschuldet ausgebliebenen Beitragsleistungen gewährleisten. Durch die Zurechnungszeit werden erwerbsgeminderte Personen so gestellt, als würden bis zum Erreichen der maßgeblichen Altersgrenze weiter Beiträge in der Höhe gezahlt, wie bis zum Eintritt der Erwerbsminderung.
Während bereits ab 2012 die Regelaltersgrenze von 65 Jahren jedes Jahr um einen Monat angehoben wurde, konnte sich der Gesetzgeber zunächst nicht dazu entschließen, die Zurechnungszeit in entsprechender Weise zu verlängern. Mit dem Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 23.6.2014 5 5 BGBl. I 2014, S. 787ff. wurde die Zurechnungszeit für Rentenzugänge ab dem 1.7.2014 zunächst um zwei Jahre auf das 62. Lebensjahr angehoben. In einem weiteren Schritt wurde mit dem Gesetz über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 28.11.2018 6 6 BGBl. I 2018, S. 2016ff. für Neuzugänge ab dem 1.1.2019 die Zurechnungszeit auf die damals geltende Regelaltersgrenze von 65 Jahren und 8 Monaten angehoben 7 7 § 253a Absatz 2 SGB VI. . Für Rentenneuzugänge ab 2020 verlängert sich danach die Zurechnungszeit schrittweise weiter bis zum Jahr 2031 entsprechend der schrittweisen Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre 8 8 § 253a Absatz 3 SGB VI. .
Mit dem Ziel, das Niveau der Bestandsrenten an die Neurenten anzupassen, hat der Gesetzgeber sich mit dem Rentenanpassungs- und EM-Rentenbestandsverbesserungsgesetz entschieden, nun auch Bestandsrenten durch Zuschläge zu erhöhen. In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt 9 9 BT-Drucks. 20/1680, S. 2. , dass sich die Höhe des Zuschlags an der am 1.1.2019 geltenden Zurechnungszeit von 65 Jahren und 8 Monaten orientiert.
3. Die wesentlichen Regelungen
Die Zuschlagsregelung wurde im neu geschaffenen § 307i Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) verankert. Dort wurde geregelt, zu welchen Renten ein ZuschIag zu zahlen ist, welche Höhe er hat und in welche Folgerenten er zu übernehmen ist.
In § 307i Absatz 1 SGB VI sind diejenigen Bestandsrenten benannt, zu denen ab dem 1.7.2024 ein Zuschlag gezahlt wird, sofern am Stichtag 30.6.2024 ein Anspruch auf eine dieser Renten besteht. Genannt werden
– Erwerbsminderungsrenten (Ziff. 1),
– Erziehungsrenten (Ziff. 1),
– Hinterbliebenenrenten, denen kein Rentenbezug der verstorbenen versicherten Person unmittelbar vorausging (Ziff. 2),
– Altersrenten, die unmittelbar an eine Erwerbsminderungsrente oder an eine Erziehungsrente i.S.von Nr. 1 anschließen (Ziff. 3),
– sowie Hinterbliebenenrenten, die unmittelbar an eine EM-Rente nach Nr. 1 oder eine Altersrente nach Nr. 3 anschließen (Ziff. 4).
Voraussetzung für die Zahlung des Zuschlags für die Renten nach Ziff. 1 – 2 ist, dass die Rente im Zeitraum zwischen 1.1.2001 und 31.12. 2018 begonnen hat und bis zum 30.6.2024 ununterbrochen bezogen wird. Endete die Zahlung solcher Renten bereits vor dem 30.6.2024, folgte ihr aber unmittelbar eine der in den Ziff. 3 und 4 bezeichneten Renten, wird ein Zuschlag zu diesen Renten gezahlt.
Die Höhe des Zuschlags wird dabei auf Grundlage der individuellen Anzahl an persönlichen Entgeltpunkten berechnet, die der jeweiligen Rente am 30.6.2024 zugrunde liegen. Bei der Höhe des Zuschlags wird danach unterschieden, ob der Anspruch auf Erwerbsminderungsrente bzw. auf die Rente wegen Todes in der Zeit vom 1.1.2001 bis 30.6.2014 oder vom 1.7.2014 bis 31.12.2018 entstanden ist. Nach Abs. 3 des § 307i SGB VI beträgt der Faktor für Renten mit Beginn nach dem 31.12.2000 und vor dem 1.7.2014 7,5 % der persönlichen Entgeltpunkte und für Renten mit Beginn nach dem 30.6.2014 und vor dem 1.1.2019 4,5 %. Hintergrund dieser Zweistufenlösung ist, dass Bestandsrentnerinnen und Bestandsrentner mit Rentenbeginn nach dem 30.6.2014 bereits von der Erhöhung der Zurechnungszeit von 60 auf 62 Jahre profitiert haben und der Ausgleichsbedarf für diese Renten daher geringer ausfällt.
Ein Rentenzuschlag kann nach Abs. 1 Nr. 2 des § 307i SGB VI auch zu einer Hinterbliebenenrente gezahlt werden, wenn sie im Zeitraum zwischen 2001 und 2018 begonnen hat. Abs. 4 stellt für diese Fallgruppe jedoch klar, dass kein Zuschlag zu zahlen ist, wenn die versicherte Person nach Vollendung des 65. Lebensjahres und acht Monaten verstorben ist, also zu einem Zeitpunkt, zu dem bei einem Rentenbeginn im Jahr 2019 keine Zurechnungszeit mehr berücksichtigt worden wäre.
Nach Abs. 5 ist ein bereits in einer Rente enthaltener Zuschlag weiter zu zahlen, wenn dieser Rente nach dem 1.7.2024 eine Rente wegen Alters oder eine Hinterbliebenenrente folgt, bei der eine Zurechnungszeit nicht oder nur in begrenztem Umfang zu berücksichtigen ist. Damit wird ein Ausgleich geschaffen, wie er im Übrigen bei der Berechnung von Folgerenten durch eine Anrechnungszeit nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB VI erfolgt.
4. Umsetzung durch die gesetzliche RV
Da das Gesetz, wie bereits ausgeführt keine individuelle Neuberechnung der Renten vorsieht, sondern die Verbesserung durch pauschale Zuschläge erreicht werden soll, ist das Gesetz weitestgehend digital und ohne Einsatz der Sachbearbeitung umsetzbar. Denn entsprechende Zuschläge können maschinell berechnet werden. Die im Gesetzgebungsverfahren teilweise geforderte individuelle Verlängerung der bislang berücksichtigten Zurechnungszeit im jeweiligen Einzelfall hätte das manuelle Eingreifen der Sachbearbeitung der Rentenversicherungsträger erfordert, da der für die Bewertung der zusätzlichen Zurechnungszeit benötigte Gesamtleistungswert in den Konten nicht maschinell auswertbar abgelegt ist. Eine solche Lösung hätte, worauf die Deutsche Rentenversicherung Bund im Gesetzgebungsverfahren hingewiesen hat, einen enormen Verwaltungsaufwand bedeutet, der mit den vorhandenen Personalressourcen nicht zu bewältigen gewesen wäre.
Eine vollständige Gleichstellung aller EM-Rentnerinnen und EM-Rentner ist auch deshalb kaum darstellbar, da durch die schrittweise Anhebung der Zurechnungszeit auch die Rentenneuzugänge unterschiedlich behandelt werden. Jeder Schritt der Verlängerung der Zurechnungszeit bis zum Jahr 2031 schafft für diese eine neue Bestandsgruppe, die gegenüber früheren Zugängen bessergestellt ist; gleichzeitig aber geltend machen könnte, gegenüber später Zugehenden, für die eine weitere Verlängerung greift, schlechter gestellt zu sein.
Auch die in der Anhörung zu dem Gesetz im zuständigen Bundestagsausschuss am 30.5.2022 10 10 Vgl. Ausschussdrucksache 20(11)127. ins Gespräch gebrachte rückwirkende Zahlung der pauschalen Zuschläge ab 2023 hätte einen beträchtlichen Verwaltungsaufwand mit sich gebracht, insbesondere in den Fällen, in denen eine abgetrennte Zahlung oder ein Erstattungsanspruch zu berücksichtigen ist.
Durch das Inkrafttreten des Gesetzes zum 1.7.2024 erhält die Deutsche Rentenversicherung den unabdingbar notwendigen zeitlichen Vorlauf zur technischen Umsetzung. Insbesondere konnte durch das Inkrafttreten zum 1.7.2024 eine aufwendige parallele Programmierung der Zuschläge für Ost- und Westwerte vermieden werden.
Wegen der Vielzahl weiterer beschlossener bzw. geplanter gesetzgeberischer Maßnahmen, wie z. B. des Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetzes 11 11 Entwurf eines Gesetzes zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege vom 5.4.2023. , stellt die Umsetzung des Gesetzes, trotz des Vorlaufs von zwei Jahren zwischen Verabschiedung und Inkrafttreten, für die Deutsche Rentenversicherung eine Herausforderung dar.
Derzeit wird die Umsetzung des Gesetzes vorbereitet. Die Auslegungsfragen, die sich aus dem Gesetz ergaben, sind geklärt und damit die Rahmenbedingungen für die Programmierung geschaffen. Um zielgerichtet die entsprechenden Renten aufstocken zu können, müssen die rd. drei Millionen betroffenen Renten aus dem gesamten Rentenbestand von rd. 26 Mio. Renten herausgefiltert werden. Nach Anpassung der IT-Berechnungsprogramme kann die Aufstockung der rd. drei Millionen Bestandsrenten und die Auszahlung der Zuschläge ab dem Inkrafttreten des Gesetzes erfolgen.
5. Fazit
Die vom Gesetzgeber beschlossenen Leistungsverbesserungen führen zu einer besseren Absicherung des Riskos der Erwerbsminderung, unabhängig vom jeweiligen Beginn der Rente wegen Erwerbsminderung.
Die Zahlung der Zuschläge zu den EM-Renten, die zwischen 2001 und 2018 zugegangen sind, hat auch für diese Gruppe einen höheren durchschnittlichen Rentenzahlbetrag zur Folge. Im Durchschnitt werden diese EM-Renten um voraussichtlich rd. 70 EUR brutto (bzw. 40 EUR brutto bei Zugang zwischen Juli 2014 und Dezember 2018) höher als bisher ausfallen. Das gilt entsprechend für ihnen nachfolgende Alters- bzw. Hinterbliebenenrenten. Es ist deshalb zu vermuten, dass künftig weniger Rentnerinnen und Rentner als bisher zusätzlich zur Rente auf Grundsicherung angewiesen sein werden. Ob diese Annahme zutrifft, wird die Entwicklung in den nächsten Jahren zeigen.
Abzuwarten bleibt, ob gegen die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10.11.2022 12 12 B 5 R 29/21 R sowie B 5 R 31/21 R. Verfassungsbeschwerde eingelegt wird. Angekündigt haben dies die Sozialverbände bereits 13 13 Musterklage SOVD Zur Musterklage , 14 14 Musterklage vdk Zur Musterklage .
Das BSG hat einen Anspruch von Bestandsrentnerinnen und Bestandsrentnern auf Gleichbehandlung mit dem Rentenzugang in Bezug auf die verlängerten Zurechnungszeiten verneint. Das wurde insbesondere damit begründet, dass ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) nicht festgestellt werden konnte. Die vom Gesetzgeber angeführten Gründe für die Differenzierung zwischen Bestands- und Neurentnern seien sachlich nachvollziehbar und nicht willkürlich. Es entspreche einem Strukturprinzip der gesetzlichen RV, dass Leistungsverbesserungen ebenso wie Leistungskürzungen grundsätzlich nur für neu bewilligte Renten gelten.
Auch die nun mit dem EM-Rentenbestandsverbesserungsgesetz vorgesehenen Zuschläge für Bestandsrentnerinnen und -rentner fanden bei der Entscheidung des BSG Berücksichtigung.