Eröffnung
Die Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung Bund, Gundula Roßbach, betonte in ihrer Eröffnungsrede, dass das Rentenrecht regelmäßig auf gesellschaftlichen Wandel reagiert hat. Sie verwies u.a. auf die Absicherung von Witwern – hier erfolgte die Gleichstellung von Frauen und Männern 1986 – oder darauf, dass Partnerinnen und Partner in gleichgeschlechtlichen Ehen Ansprüche auf Witwen-/Witwerrenten haben. Für die Tagung stelle sich die Frage, welche Implikationen der aktuelle gesellschaftliche Wandel für die Absicherung Hinterbliebener hat. Aus der Perspektive der Rentenversicherung (RV) sei diese Absicherung auch finanziell von Bedeutung. Zwar habe der Anteil der Ausgaben für Renten wegen Todes über die letzten Jahrzehnte abgenommen, er läge, so Roßbach, aber immer noch bei knapp 15% der gesamten Rentenausgaben und sei damit z.B. mehr als doppelt so hoch wie die Ausgaben für Erwerbsminderungsrenten. Generell blicke sie mit Spannung auf die Diskussionen, aus denen sich eventuell auch Inspirationen für neue Forschungsfragen ergeben könnten. Insbesondere der nationale Forschungsstand zur Hinterbliebenenabsicherung sei ihrer Ansicht nach noch ergänzungsfähig.
Aktuelle Entwicklungstendenzen in der Gesellschaft: Individualisierung vs. Re-Traditionalisierung
Die Erkenntnis, dass der Heiratsmarkt für Frauen lukrativer ist als der Arbeitsmarkt, liegt für die Referentin des Eröffnungsvortrags, Jutta Allmendinger (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung), schon einige Jahrzehnte zurück. Trotz sukzessiver Verbesserung der Einkommenslage von Frauen sei diese Erkenntnis auch heute noch relevant. Die RV habe einen wichtigen Anteil an diesen Verbesserungen gehabt, u.a. mit ihren Regelungen zum Versorgungsausgleich, mit der Anerkennung von Kindererziehungszeiten und Pflegezeiten sowie mit weiteren Leistungen im Bereich der nicht-bezahlten, zugleich aber gesellschaftlich notwendigen Care-Arbeit und der gemeinwohlorientierten Tätigkeiten. Auf dem Arbeitsmarkt gebe es ihrer Einschätzung nach hingegen immer noch ungünstige Rahmenbedingungen für Frauen, die sich in ungleichen Löhnen und einem erheblichen Gender Wage Gap ausdrückten. Um dem Ziel, gleichen Lohn für vergleichbare Arbeit näher zu kommen, dürfe Leistung nicht länger nur als Leistung auf dem Arbeitsmarkt definiert werden. Eine Transformation der Erwerbsarbeitsgesellschaft in eine Tätigkeitsgesellschaft sei notwendig. Allmendinger sieht die RV mit ihren familienbezogenen Leistungen auf einem guten Weg dorthin.
Die im Vortragstitel gestellte Frage nach Individualisierung oder Re-Traditionalisierung als gesellschaftlicher Trend im Kontext der Corona-Jahre beantwortet sie differenziert. So sei Individualisierung nicht zwingend als Verlust von Sozialem und dem großen gesellschaftlichen Gemeinsamen zu deuten, sie könne vielmehr auch für Selbständigkeit, Unabhängigkeit und den Bezug auf kleinere „Wir-Einheiten“ stehen. Die Coronazeit habe unterschiedliche Konsequenzen für Frauen und Männer gehabt. Männer hätten z.B. die Arbeit im Homeoffice überwiegend als positive Alternative wahrgenommen, während sie für Frauen von den Notwendigkeiten der Kinderbetreuung bei wegbrechenden Unterstützungsstrukturen geprägt war. Diese Gemengelage habe zu jeweils veränderten Geschlechternormen geführt: Während Frauen oft ihre Karrierepfade unterbrochen hätten, äußerten Männer häufiger Zweifel an moderner erwerbsorientierter Lebensführung von Frauen. Ihre Zukunftsperspektive verband Allmendinger mit den Forderungen nach einer Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, einem Ende des Ehegattensplittings, der Abschaffung von Minijobs, besseren Jobsharing-Modellen und dem Ausbau der Betreuungsinfrastruktur.
110 Jahre Witwen-/Witwerrenten – rechtshistorische und sozialrechtliche Perspektiven
Ohne eine rechtwissenschaftliche Würdigung des Tagungsthemas kam – aus gutem Grund – bisher keine FNA-Jahrestagung aus. Einen prominenten Platz im Programm nahm daher die Frage ein, welche Anforderungen aus dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz, dem Gleichstellungsgebot und dem Diskriminierungsverbot in Anbetracht der Pluralisierung von Familienformen für die Witwen-/Witwerrenten abgeleitet werden können. Für ihre Antwort griffen Kirsten Scheiwe (Universität Hildesheim) und Wibke Frey (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) auf die Ergebnisse ihres FNA-geförderten Forschungsprojekts „100 Jahre Witwen- und Witwerrenten – (k)ein Auslaufmodell?“ zurück. Während die Pluralität von Familienformen bei den Waisenrenten, mit einem relativ weiten Kreis von Anspruchsberechtigten, weitgehend anerkannt sei, gelte für Witwen- und Witwerrenten ausschließlich die Ehe als Anknüpfungspunkt. Diese enge Voraussetzung ziehe sich durch alle Ausbauetappen in der historischen Entwicklung: von der Armenfürsorge über die Arbeiterwitwenrente für invalide Witwen, die Witwenrente für Mütter und Kriegerwitwen im Nationalsozialismus bis zur kleinen und großen Witwenrente mit Einkommensanrechnung im geltenden Recht. Da Ehe und Familie nicht immer zusammenfallen, sei die Witwenrente somit nicht sehr zielgenau.
Bei der Verknüpfung von Ehe und Familie mit dem besonderen staatlichen Schutzauftrag hat der Gesetzgeber aus Sicht von Scheiwe und Frey einen weiten Gestaltungsspielraum, der letztlich auch eine bessere Absicherung von Familien zuließe. Verfassungswidrig seien die Regelungen zur ausschließlichen Absicherung von Ehepartnerinnen und -partnern im Todesfall nicht – kritikwürdig hingegen schon. So wären den abgeleiteten Leistungsansprüchen, die z.B. im Fall der Wiederheirat ersatzlos entfallen, eigene Ansprüche mit Bestandsgarantie deutlich vorzuziehen. Insgesamt sei die Witwen-/Witwerrente zwar gleichstellungspolitisch problematisch, aber de facto für die Alterssicherung von Frauen unverzichtbar. Eine Reform des Hinterbliebenenrechts sollte dementsprechend mit einer geschlechtersensiblen Gesetzesfolgenabschätzung einhergehen.
Allgemeine Entwicklungen und Trends bei Hinterbliebenenrenten in der gesetzlichen RV
Weiter ging es mit einem Block über Zahlen, Daten und Fakten zu abgeleiteten Leistungsansprüchen in den drei Säulen der Alterssicherung. Den Auftakt machte Roßbach. Sie hob hervor, dass sich die Idee des Gesetzgebers, sich bei jüngeren Menschen auf die eigene Erwerbstätigkeit zu fokussieren, auch in der Ausgestaltung der Witwen-/Witwerrente wiederfinde. Eine lebenslange Hinterbliebenenrente werde z.B. erst ab einem bestimmten Alter (47 Jahre ab 2029) gewährt und unterliege einer Einkommensanrechnung. Ist die bzw. der Hinterbliebene jünger, besteht der Anspruch als kleine Witwen-/Witwerrente nur für 24 Monate und auch nur in Höhe von 25% der Rente, auf die der oder die Verstorbene Anspruch gehabt hätte (im Vergleich zu 55% bei der großen Witwen-/Witwerrente). Alternativ bestehe seit 2002 auch die Möglichkeit des Rentensplittings (hälftige Aufteilung der während der Ehe erworbenen Ansprüche). Diese Option werde aber nur sehr selten gewählt, so Roßbach.
Sie machte deutlich, dass die RV insgesamt etwa 5,2 Millionen Witwen- bzw. Witwerrenten auszahle (Stand: Ende 2021), von denen die große Mehrheit an Frauen gehe (bei einem Verhältnis von Witwen- zu Witwerrenten von knapp über 6:1). Die Auswirkungen einer verstärkten Erwerbstätigkeit von Frauen spielten in ihrem Vortrag ebenfalls eine Rolle: Inzwischen unterläge, so Roßbach, etwa ein Drittel der großen Witwenrenten der Einkommensanrechnung (2006: 23%). Zum Vergleich: Bei der großen Witwerrente liegt der Anteil seit 2006 unverändert bei knapp unter 80%. Daten aus der Studie Lebensläufe und Altersvorsorge (LeA) zu steigenden Ansprüchen bei Frauen legten laut Roßbach nahe, dass möglicherweise künftig eine Kompensation in diesem Ausmaß gar nicht mehr notwendig sei. Vor dem Hintergrund sich verändernder gesellschaftlicher Leitbilder stelle sich daher die Frage, ob es hier Anpassungsbedarf gebe. Aktuell sei die Witwenrente jedoch noch sehr relevant, wie die Statistik zeigt: Unter den alleinstehenden Frauen ab 65 Jahren haben Witwen demnach verglichen mit Ledigen und Geschiedenen/Getrennt Lebenden die niedrigste eigene Rente aus der gesetzlichen RV (≈750 EUR vs. ≈1 200 EUR), ihr durchschnittliches Gesamteinkommen ist jedoch am höchsten (≈2 000 EUR vs. ≈1 700 EUR).
Bedeutung und Entwicklung abgeleiteter Leistungsansprüche in der betrieblichen Altersversorgung
Klaus Stiefermann von der Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung (aba) merkte in seinem Vortrag an, dass sich in der zweiten Säule der Fokus der abgesicherten Risiken über die Zeit gewandelt habe. Stand bei Gründung der ersten Versorgungseinrichtungen vor über 160 Jahren noch die Absicherung von Hinterbliebenen und Invaliden im Fokus, sei es nun die Alterssicherung. Im Unterschied zur gesetzlichen RV wird laut Stiefermann in der betrieblichen Altersversorgung (bAV) die Übernahme eines oder mehrerer biometrischer Risiken verlangt. Der Arbeitgeber sei somit innerhalb eines gewissen Rahmens frei in der Ausgestaltung der bAV.
Detaillierte Statistiken zur Hinterbliebenenabsicherung in der bAV lägen, so Stiefermann, nicht vor (ein bekanntes Manko). Aus Befragungen zentraler Akteure (Fachvereinigungen mit Vertretern der einzelnen Durchführungswege der bAV und großer Beratungshäuser) ließen sich jedoch zumindest Trends erkennen: Für den öffentlichen Dienst sei die Hinterbliebenenversorgung in der zweiten Säule demzufolge Standard, eine Wahlmöglichkeit existiere hier lediglich, sofern Entgeltumwandlung eine Option sei. Privatwirtschaftlich sei das Bild nach den Ausführungen Stiefermanns differenzierter: Bei Direktzusagen sei die Absicherung Hinterbliebener fast immer eingeschlossen, bei Zusagen aus einer Pensionskasse in ca. zwei Drittel der Fälle. Eine stark abnehmende Tendenz sei bei Direktversicherungen zu verzeichnen. Stiefermann erläuterte darüber hinaus, dass Beschäftigte bei Entgeltumwandlung – also wenn sie eigene Gelder einbringen – zugunsten einer höheren Altersleistung auf die Hinterbliebenenabsicherung verzichteten. Das Konstrukt der Rentenlücke sei für Beschäftigte hier ein zentraler Orientierungspunkt, so Stiefermann.
Abschließend wies er noch auf Alternativen zur klassischen Hinterbliebenenabsicherung im Rahmen von Direktversicherungen hin, die es erlaubten, Kapital zu sichern. Es gäbe z.B. die Möglichkeit, eine Rentengarantiezeit zu vereinbaren. Sterbe die versicherte Person, erhalten Hinterbliebene monatliche Leistungen für die Restlaufzeit. Einflussfaktoren für diese Optionen sind laut Stiefermann z.B. Altersabstandklauseln, die eine Standard-Hinterbliebenenabsicherung bei einer Altersdifferenz von mehr als 15 Jahren ausschließen würden.
Private Absicherung von Hinterbliebenen
Peter Schwark vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) betonte in seinem Vortrag zur Hinterbliebenenabsicherung in der dritten Säule, dass diese durch Individualität, Freiwilligkeit und Vertragsfreiheit gekennzeichnet sei. Ob, wann, wieviel und wer abgesichert werden solle, entscheide jede und jeder für sich selbst. Auch die Motive zur Absicherung seien heterogen (z.B. Schuldentilgung oder Abdeckung von Zusatzkosten). Der politische Rahmen sowie das Steuersystem seien jedoch prägend. Schwark hob hier die Riester-Reform hervor, die sehr stark auf die Altersabsicherung fokussiere, so dass die Absicherung Hinterbliebener auch bei der Regulierung der ergänzenden Vorsorge keine große Rolle gespielt habe. Bedeutender sei jedoch die Rürup-Reform gewesen, die zu einem Paradigmenwechsel in der steuerlichen Behandlung der Lebensversicherung geführt habe. Lediglich Rentenversicherungen sind seitdem noch steuerlich begünstigt, so Schwark, Kapitallebensversicherungen jedoch nicht mehr. Der Einfluss dieser Änderung zeige sich auch sehr deutlich in den aggregierten Statistiken: Von 2005 bis 2021 hat sich demnach der Bestand der Rentenversicherungen von knapp 24,5 Mio. Verträgen auf etwa 47 Mio. fast verdoppelt, bei einem Rückgang der Kapitallebensversicherungen von ungefähr 55 Mio. Policen auf ca. 22 Mio.
Darüber hinaus wies Schwark auch auf eine Strukturverschiebung bei den Zusatzversicherungen hin, die einen Wandel des Leistungsbegriffs hin zur eigenständigen Vorsorge widerspiegele. An die Stelle der Todesfallabsicherungen trete zunehmend die Absicherung der Arbeitskraft und Erwerbsfähigkeit bzw. die Absicherung gegen Invalidität. Die Zahlen seien eindrucksvoll: Waren 1993 noch knapp 97% aller Zusatzversicherungen Risikolebensversicherungen lag ihr Anteil 2021 bei ca. 42%. Im gleichen Zeitraum sei der Anteil der gegen Invalidität abgeschlossenen Versicherungen von ungefähr 3% auf knapp 48% gestiegen.
Gender Gaps und die institutionellen Rahmenbedingungen der Absicherung Angehöriger
In der nächsten Session ging es um institutionelle Rahmenbedingungen im gesellschaftlichen Wandel und entstehende Anreizwirkungen. Aus einer verhaltensökonomischen Perspektive näherte sich Andreas Peichl (Ludwig-Maximilians-Universität München / ifo Institut) der Frage, welche Anreize von der Witwenrente auf die Erwerbsbeteiligung ausgehen. Er präsentierte kontrovers diskutierte Ergebnisse eines ökonomischen Simulationsmodells, welche für die USA eine deutliche Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit in Folge einer Abschaffung der Witwenrente zeigen.
Darüber hinaus ging Peichl näher auf den Gender Pay Gap ein. Dieser sei für das Jahreseinkommen noch einmal deutlich höher als nach Stundenlohn und würde in höheren Einkommensklassen und im Gesamteinkommen deutlich zunehmen. Dies läge in Deutschland, so Peichl, am veränderten Erwerbsverhalten und an damit einhergehenden Einkommenseinbußen nach der Hochzeit und der meist kurz darauffolgenden Mutterschaft („specialization / child penalties“). Die Folgen dieser Gehaltseinbußen aufgrund von Hochzeit und Kindern zögen sich durch die gesamte Erwerbsbiographie – mit dementsprechenden Konsequenzen für die Alterssicherung und damit auch für den Gender Pension Gap. Dieser korreliere auch international – unabhängig vom jeweiligen Rentensystem – mit bestimmten Erwerbsmustern (z.B. Teilzeitquoten) und ließe sich durch größere Anreize für die Erwerbstätigkeit von Frauen verringern. Dabei spielen Institutionen nach Einschätzung Peichls eine wichtige Rolle. So zeigten etwa verschiedene Studien, dass Anreizstrukturen im Steuer- und Sozialsystem ein signifikantes Arbeitsmarkthemmnis für verheiratete Frauen darstellten. In Deutschland sei das besonders stark ausgeprägt, etwa durch Ehegattensplitting, beitragsfreie Mitversicherung in der Krankenversicherung, Hinterbliebenenrenten, Minijobregelungen, (fehlende) Betreuungsangebote und Elternzeitregelungen. An Peichls Empfehlungen, die besprochenen Anreizstrukturen entsprechend zu reformieren, schloss sich eine kritische Diskussion an.
Hinterbliebenenrenten – Finanzielle Absicherung und soziale Implikationen
Im nächsten Vortrag widmete sich Claudia Vogel (Hochschule Neubrandenburg) der armutsvermeidenden, existenziellen Rolle von Hinterbliebenenrenten und damit auch deren sozialpolitischer Bedeutung. Sie führte zunächst aktuelle Befunde zur Armutsgefährdung älterer Menschen in Deutschland aus. Ihre individuelle Situation im Alter hinge sowohl vom erzielten Einkommen ab als auch aus der Lebenslaufperspektive von der Übernahme von Sorgetätigkeiten, Familienbiographien und dem Familienstand bzw. der Haushaltskonstellation. Daraus ergibt sich laut Vogel, dass verschiedene Gruppen unterschiedlich armutsgefährdet sind und Frauen eine höhere Armutsquote im Alter (über 65 Jahre) aufweisen. Sie stellte zudem heraus, dass Witwen zwar oft von Armut bedroht seien, jedoch nicht so häufig wie ledige oder geschiedene Frauen.
Danach präsentierte sie Ergebnisse aus einem FNA-geförderten Projekt zur Wohnkostenbelastung. Demnach sind im Alter zwei Ereignisse von besonderer Bedeutung: zum einen der Eintritt in den Ruhestand und zum anderen die Verwitwung. Das liege daran, dass beim Tod des Partners bzw. der Partnerin das jeweilige individuelle Einkommen wegfalle (etwa Erwerbseinkommen, private Renten oder Betriebsrenten). Die gesetzliche Rente ersetze diese Einkommen nicht vollständig, da sie ausschließlich anteilig auf Basis der gesetzlichen Rente der/des Verstorbenen berechnet würde. Zusätzlich nähmen, so Vogel, mit steigendem Alter die Möglichkeiten zum Zuverdienst (z.B. Minijob) ab. Armutsgefährdend wirke auch, dass dem verringerten Einkommen weiterhin hohe Wohnkosten gegenüberstünden. Vor allem Witwen seien nach der Analyse Vogels daher nach dem Tod ihrer Partner von Wohnkostenüberbelastung betroffen.
Anschließend ging Vogel auf den Zusammenhang zwischen Verwitwung und Ungleichheit ein. Dieser münde auch in geschlechtsspezifisch differenzierten Erwerbschancen und daraus resultierenden unterschiedlichen Anwartschaften. Sie resümierte, dass die Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen RV ein zentrales Instrument zur Stabilisierung des Einkommens von Witwen darstellten. Je höher der Anteil an Einkommen aus Zusatzsystemen (betriebliche Renten, private Altersvorsorge) im „Alterssicherungsmix“ sei, desto geringer falle das Einkommen von Witwen aus. Ein sichereres Einkommen im Alter bedeute also eine starke erste Säule bzw. deren Stärkung.
Paneldiskussion: Pluralisierung von Familienformen – Sich wandelnde gesellschaftliche Werte und Vorstellungen zur Absicherung Angehöriger
Zum Abschluss des ersten Veranstaltungstages erörterten Jörg Althammer (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt), Martin Bujard (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung), Sigrid Leitner (Technische Hochschule Köln) und Claudia Vogel (Hochschule Neubrandenburg) unter der Moderation von Angela Borgwardt die sich wandelnden gesellschaftlichen Werte und Vorstellungen zur Absicherung Angehöriger. Im ersten Teil der Diskussion ging es um die Aushandlung des Familienbegriffes und den Wandel von Familienleitbildern und -formen. Interessanterweise hielten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem Podium an einer klassischen Definition von Familie fest. Als zentrales Kriterium, welches Familie konstituiert, benannten sie das Zusammentreffen mehrerer Generationen. Patchwork- oder Regenbogenfamilien schlossen sie explizit mit ein, sog. Wahlverwandtschaften, also selbstbestimmte soziale Beziehungen ohne Blutsverwandtschaft, die füreinander Verantwortung und Sorge tragen, wurden zwar erwähnt, spielten im weiteren Verlauf aber eher eine untergeordnete Rolle.
Obwohl sich die traditionelle Geschlechterrollenzuschreibung verändert habe, bleibe der Vereinbarkeitskonflikt zwischen (unbezahlter) Sorgearbeit und Erwerbstätigkeit weitestgehend bei den Frauen. Minijobs und Teilzeitarbeit gepaart mit ungleicher Bezahlung zwischen Männern und Frauen führten letztlich, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, zu einem Gender Pension Gap. Insofern betrachteten sie Hinterbliebenenrenten als ein Instrument, Frauen vor Altersarmut zu schützen, wenngleich bezweifelt wurde, dass es das geeignetste Mittel ist.
Im zweiten Teil der Diskussion wurde erörtert, wie sich die Familienpolitik und auch die Hinterbliebenenabsicherung angesichts der zuvor skizzierten Aspekte ändern sollte. Für ein egalitäreres Modell sahen sie neben dem Ausbau der Kindertagesstätten und Ganztagsschulen auch die Arbeitgeber in der Verantwortung, Familien zu unterstützen. Es sollte mehr vollzeitnahe Teilzeitstellen geben. Des Weiteren müssten Arbeitgeber Familien auch Familienpflegezeit ermöglichen. Ein großes Problem stelle zudem der Niedriglohnsektor dar; insbesondere die geringfügige Beschäftigung sowie die Ausweitung des Übergangsbereichs bei Midijobs sei problematisch und dysfunktional. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nannten schließlich Ansatzpunkte, um volle sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit zu erhöhen. Anstelle des Ehegattensplittings, das eher geringe Anreize für Erwerbstätigkeit biete, könnten andere Modelle, z.B. in Richtung Familiensplitting helfen. Auch ein verpflichtendes Rentensplitting, eventuell zusätzlich zur Hinterbliebenenrente, wurde zur Diskussion gestellt.
Die Ausweitung der Hinterbliebenenabsicherung in der gesetzlichen RV auf nichteheliche Gemeinschaften wurde intensiv diskutiert, letztlich fand sich dafür aber kein Konsens. Zusammenfassend betonten mehrere Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer: Bei allen Reformvorhaben sei es unerlässlich, zu berücksichtigen, dass ältere Kohorten ihre Lebensplanung rückwirkend nicht an neue Bedingungen anpassen könnten und deshalb größere Veränderungen nur mit langen Übergangsfristen möglich seien.
Familienwandel und Alterssicherung – Ist der Versorgungsausgleich noch zeitgemäß?
Michaela Kreyenfeld (Hertie School) stellte in ihrem Vortrag die Frage, ob der Versorgungsausgleich noch zeitgemäß ist. Zu Beginn merkte sie an, dass mit den Baby-Boomern mittlerweile auch Kohorten in Rente gehen, die Scheidungen in ihrem Lebenslauf erfahren haben. Gleichzeitig würden auch Scheidungen im Rentenalter zunehmen (grey divorce revolution), so dass sich eine Pluralität von Lebensformen auch vermehrt bei Älteren wiederfinde. Scheidung sei allerdings ein sog. neues soziales Risiko, das erst nach der Konsolidierung der Wohlfahrtsstaaten in den Vordergrund rückte. Eine entsprechende Absicherung dieses Risikos sei daher häufig unterblieben. Kreyenfeld betonte, dass Deutschland mit der Einführung des Versorgungsausgleichs 1977 hier international eine Ausnahme bilde. Deutschland setze auf eine Ex-Post Kompensation. Im Gegensatz dazu gehe Schweden mit der Ex-Ante Eigenständigkeit einen anderen Weg und betone die Arbeitsmarktintegration der Frauen – unterstützt z.B. durch die Abschaffung des Ehegattensplittings in den siebziger Jahren.
Mit Blick auf die Frage, ob der Versorgungsausgleich noch zeitgemäß sei, ging Kreyenfeld zunächst auf die Geschichte und Logik dieses Instruments ein, bevor sie die Probleme der Selektivität und Effektivität adressierte. Selektivitätsprobleme sollten sich eigentlich gar nicht ergeben – die juristische Literatur stelle es so dar, dass der Versorgungsausgleich immer durchgeführt werde. Ein Abgleich der Daten aus der amtlichen Statistik zur Anzahl der Scheidungen mit Statistiken zum Versorgungsausgleich zeige jedoch eine große Differenz von ca. 30%. Eventuell sei das Problem jedoch sozialpolitisch weniger dramatisch als auf den ersten Blick befürchtet, da einerseits Beamte sowie höher Qualifizierte in der Statistik zum Versorgungsausgleich fehlten und andererseits Frauen mit Kindern öfter einen Versorgungsausgleich machten. In Bezug auf die Effektivität zeigten Forschungsergebnisse, dass der Versorgungsausgleich ein Gender-Equaliser sei. Kreyenfeld bezeichnete ihn als die „effektivste familienpolitische Maßnahme“, die sie kenne, da dieses Instrument für Geschiedene den Gender Pension Gap für die erste Säule schließe. Diese Lücke sei in Schweden noch vorhanden und wachse dort sogar für jüngere Jahrgänge.
In ihrem Fazit hielt Kreyenfeld fest, dass die Altersrenten für Geschiedene in Deutschland auf einem niedrigen Niveau lägen und der Schutz durch den Versorgungsausgleich zudem nur für Verheiratete gelte. Dennoch sei dieser ein effektiver Mechanismus, um Ex-Post Geschlechtergleichheit herzustellen.
Hinterbliebenenrenten im internationalen Rechtsvergleich: Einführung
Die letzte Session widmete sich schon fast traditionsgemäß den internationalen Aspekten des Tagungsthemas. Ulrich Becker (MPI für Sozialrecht und Sozialpolitik) begann diesen Block mit einer Einführung zu Hinterbliebenenrenten im internationalen Rechtsvergleich. Er stellte zunächst fest, dass es – eventuell überraschend – nicht in allen EU-Ländern Hinterbliebenenrenten gäbe, bevor er auf die internationalen Abkommen einging, die die soziale Sicherung regelten (z.B. Art. 64 der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit oder die ILO-Übereinkommen Nr. 102 bzw. Nr. 128). Die Zweckbestimmung der entsprechenden Regelungen sei eindeutig: Hinterbliebenenrenten erfüllten demnach die Funktion des Unterhaltsersatzes. Allerdings ergebe sich nach Ansicht Beckers oft eine sozialpolitische Zwiespältigkeit, da diese Renten meist nur einen Teil des Unterhalts der Hinterbliebenen abdeckten. Gleichzeitig sei aber auch der Grundsatz zu beachten, dass jede Person selbst für ihre Einkünfte sorgen solle.
Becker systematisierte dann die Instrumente der Zwecksicherung nach Anspruchshöhe und -grund. Die Höhe könne bei einem abstrakten Bedarf etwa von einer eventuellen Wiederheirat abhängen, Altersgrenzen könnten zu einer Minderung eines bestehenden Bedarfs führen und Anrechnungen oder Bedürftigkeitsprüfungen spielten bei einem konkreten Bedarf eine Rolle. Hinsichtlich des Anspruchsgrundes wies Becker darauf hin, dass dieser versicherungsrechtlich bei der versicherten Person liegt und die Versicherungsdauer hier relevant sei. Weiterhin sei die Dauer und Art des Unterhaltsverbandes (Ehe, Partnerschaft) von Bedeutung. Insbesondere die Art sei interessant, da sich hier gesellschaftliche Veränderungen widerspiegelten.
Anschließend ging Becker auf ausgewählte Länderbeispiele ein. In Bezug auf Skandinavien sei deutlich, dass Eigenverantwortung dort eine große Rolle spielt. Schweden habe Becker zufolge z.B. Witwenrenten bereits 1990 abgeschafft (allerdings mit Übergangsregelungen) und Norwegen sehe dies für 2024 vor. Frankreich hingegen habe nach Angaben Beckers 2003 den Zugang zu Hinterbliebenenrenten durch Abschaffung der Altersgrenzen erleichtert, diese jedoch 2009 wieder eingeführt (55 Jahre).
In seinem Fazit führte Becker aus, dass es keine eindeutige Tendenz zu einem Abbau der Hinterbliebenenrenten gibt und die Entwicklungen unterschiedlich verlaufen. Seiner Ansicht nach liege das an der jeweiligen institutionellen Ausgestaltung der Sicherungssysteme sowie an unterschiedlichen sozialpolitischen Agenden bzw. normativen Grundeinstellungen.
Status Quo und Entwicklungstendenzen: Ergebnisse einer vergleichenden Studie
Verena Zwinger von der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt stellte Forschungsergebnisse einer international vergleichenden Studie zu Hinterbliebenenrenten vor, die im Rahmen der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) entstanden sei. Startpunkt der Untersuchung war die Feststellung, dass es in den letzten 20 Jahren zwar substanzielle gesellschaftliche Veränderungen gegeben habe (u.a. steigende Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen, Rückgang der Heiratszahlen), nachhaltige Reformen bei Hinterbliebenenleistungen hingegen selten gewesen seien. Das Thema besitze jedoch eine hohe finanzielle Relevanz, da z.B. die Ausgaben für Hinterbliebenenrenten in Deutschland 2017 etwa 1,8% des Bruttoinlansproduktes ausmachten. Das sei ungefähr vergleichbar mit den Ausgaben für die Arbeitslosenversicherung. In der medialen Aufmerksamkeit ist nach Einschätzung Zwingers allerdings eine starke Diskrepanz zwischen diesen beiden Institutionen offensichtlich.
Eine Vergleichskategorie in der Studie ist das Anspruchsalter für einen unbefristeten Bezug einer Hinterbliebenenrente. In etwa zwei Drittel der untersuchten 47 Länder gibt es hierfür keine Altersgrenze und in weiteren Ländern entfalle diese, sofern die hinterbliebene Person ein versorgungsbedürftiges Kind habe, so Zwinger. Aus deutscher Perspektive eventuell ungewöhnlich sei der Kreis der Anspruchsberechtigten im internationalen Vergleich. Dieser könne durchaus auch Schwestern, Brüder oder weitere Ehepartnerinnen umfassen. Das bloße Zusammenleben reiche nur in fünf Ländern für einen Anspruch aus, wie z.B. in Finnland – unter der Voraussetzung, dass es ein gemeinsames Kind gebe und der gemeinsame Haushalt für mindestens fünf Jahre bestand.
Weiterhin präsentierte Zwinger Simulationsergebnisse für typische Hinterbliebenenfälle. Diese zeigten, dass der Anteil der Rente der verstorbenen Person, der ersetzt werde, im internationalen Durchschnitt bei 50% liege, in einigen Ländern jedoch 100% betrage. Eine hohe Ersatzrate sei jedoch keine Garantie dafür, dass der Lebensstandard gehalten werden könne, so Zwinger.
Sie merkte in ihrem Vortrag ebenfalls an, dass es zwar kaum empirische Forschung zur Hinterbliebenenrente gebe, die wenigen vorliegenden Ergebnisse jedoch auf negative Arbeitsmarkteffekte hindeuteten, die allerdings systemabhängig seien. Kürzungen der Hinterbliebenenabsicherung in Italien und Österreich seien z.B. durch erhöhte Erwerbseinkommen vollständig kompensiert worden.
Zusammengefasst hob Zwinger in ihrem Fazit die Ausweitung der Leistungsberechtigten, die Erhöhung des Anspruchsalters und die Kürzung von Ansprüchen als Reformtrends hervor. Dabei machte sie auch deutlich, dass eine Abwägung divergierender Ziele (u.a. Finanzierung, Angemessenheit, Umverteilung, Gender Pension Gap) sowie die Berücksichtigung bestehender Wechselwirkungen zwischen diesen, notwendig sei.
Verabschiedung
In seiner Verabschiedung merkte Stephan Fasshauer, der Direktor der Deutschen Rentenversicherung Bund, an, dass die FNA-Jahrestagung sich mittlerweile zu Recht als fester Termin im Kalender und als echtes Kompetenzzentrum etabliert habe. Dabei betonte er auch, dass es u.a. für die sozialpolitische Beratung sehr wichtig sei, Themen aufzugreifen, die möglicherweise aktuell nicht im Fokus der sozialpolitischen Debatte stünden, aber eine intensive Beschäftigung verdienten. Für ihn sei in diesem Jahr insbesondere der internationale Ausblick spannend gewesen. Dieser habe gezeigt, dass es den eindeutigen, klaren Weg nicht gebe und ständige Reflexion sowie regelmäßiges Nachjustieren notwendig seien.
Die Präsentationen der Veranstaltung und das Graphic Recording sind unter www.fna-rv.de zu finden.