RVaktuell - Fachzeitschrift und amtliche Mitteilungen
RVaktuell - Fachzeitschrift und amtliche Mitteilungen der Deutschen Rentenversicherung

Besprechung des Urteils C-631/17 des Europäischen Gerichtshofes

RVaktuell 3/2021
In dem Urteil geht es um die Bestimmung des anwendbaren Rechts nach Art. 11 VO (EG) Nr. 883/2004. Zu Grunde liegt der Fall eines in Lettland wohnenden Arbeitnehmers, der bei einem Unternehmen mit Sitz in den Niederlanden beschäftigt ist und diese Beschäftigung auf einem unter der Flagge Bahamas fahrenden Schiff außerhalb des Territoriums der Europäischen Union ausübt. Der EuGH entschied, dass maßgeblicher Anknüpfungspunkt der Wohnsitz sei, also die Rechtsvorschriften Lettlands anwendbar sind. Dementsprechend können die Niederlande keine Beiträge fordern. Der Sachverhalt erinnert ein wenig an die Konstellation im vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall zum deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen 1990 (BSG, Urteil vom 16.6.2015 - B 13 R 27/13R). In dem Fall wohnte die Klägerin in Belgien, einem Staat, der kein Vertragspartner des besagten Übereinkommens war. Sie entrichtete aber – wegen der abhängigen Beschäftigung – die Beiträge zur Sozialversicherung in Deutschland. Gegenstand der Auslegung des BSG war die bilaterale Übereinkunft, dessen 30-jähriges Jubiläum in diesem Jahr gefeiert wird. Die Entrichtung der Beiträge zur Sozialversicherung in Deutschland – dem Vertragspartner des gegenständlichen Übereinkommens – reichte dem BSG, um von einer Integration der Klägerin in das Sozialversicherungssystem des Vertragspartners (Deutschlands) auszugehen. Das höchste deutsche Sozialgericht wandte das deutsch-polnische Sozialversicherungsabkommen europarechtskonform an und erweiterte seinen Anwendungsbereich – über den Wohnsitz hinaus – um die Integration in ein Sozialversicherungssystem. Demgegenüber legte der EuGH das oben angeführte Unionsrecht aus und knüpfte – um das anwendbare Recht zu bestimmen – an den Wohnsitz an. Beide Urteile zeigen, dass das anzuwendende Recht in grenzüberschreitenden Konstellationen oft nur mühselig bestimmt werden kann. Gleichzeitig ist – um Wertungswidersprüche zu vermeiden – größte Sorgfalt dabei geboten.
Dr. Arno Bokeloh war Referatsleiter beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Vertreter Deutschlands in der Verwaltungskommission der Europäischen Gemeinschaft für die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer.

1. Sachverhalt

Der Kläger, im Urteil SF genannt, lettischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Lettland, arbeitete von August 2013 bis Dezember 2013 als Steward auf einem Schiff für ein niederländisches Unternehmen. Das Schiff führte die Flagge Bahamas und fuhr in der maßgeblichen Zeit auf dem deutschen Teil des Nordsee-Festlandsockels, also außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes. Die niederländischen Behörden forderten für den entsprechenden Zeitraum vom Kläger Beiträge zur niederländischen Sozialversicherung. Hiergegen richtete sich die Klage. In dem Urteil geht es um die Frage des maßgeblichen Anknüpfungspunktes: Gelten für Personen, die in einem Mitgliedstaat wohnen und die bei einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen beschäftigt sind, ihre Beschäftigung aber außerhalb des Territoriums der Union ausüben, die Rechtsvorschriften ihres Wohnstaates oder diejenigen des Mitgliedstaates, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat?

 

2. Urteil und wesentliche Urteilsgründe

Der EuGH hat entschieden, nicht die niederländischen Rechtsvorschriften seien anwendbar, sondern die Rechtsvorschriften des Wohnstaates des Klägers, also Lettlands, und hat damit dem Kläger Recht gegeben. Wesentliche Urteilsgründe:

  • Das anzuwendende Recht richtet sich nach der VO (EG) Nr. 883, und zwar unabhängig davon, dass die maßgebliche Arbeit nicht auf dem Territorium eines Mitgliedstaates stattgefunden hat.
  • Die Kollisionsregelungen der VO 883 sollen – auch – verhindern, dass die Rechtsvorschriften keines Mitgliedstaates anwendbar sind, der Arbeitnehmer mithin schutzlos ist.
  • 11 Abs. 4 VO 883 ist nicht (auch nicht analog) anwendbar, weil das Schiff nicht die Flagge eines Mitgliedstaates führt.
  • Anwendbar ist Art. 11 Abs. 3 lit. e) VO 883, dessen Anwendungsbereich ist nicht auf Nicht-Erwerbstätige beschränkt.

3. Dem Urteil kann sowohl im Ergebnis als auch im Hinblick auf seine Gründe im Wesentlichen zugestimmt werden

Im Folgenden soll zu einigen Punkten Stellung genommen werden.

3.1 Kollisionsnormen nicht ausschließlich auf Arbeit im Territorium eines Mitgliedstaates anwendbar

Bereits in früheren Urteilen hat der EuGH entschieden, die Kollisionsnormen der Vorgängerverordnung zur VO 883, also der VO (EWG) Nr. 1408/71, seien auch anwendbar, wenn die Arbeit außerhalb eines Territoriums eines Mitgliedsstaates ausgeführt werde; erforderlich sei aber, dass die Arbeit eine „hinreichend enge Anknüpfung an das Gebiet der Union“  aufweise.

  • Urteil Kik 1 1 C-266/13 v. 19.3.2015.

Der Kläger, niederländischer Arbeitnehmer mit Wohnsitz in den Niederlanden, arbeitete an Bord eines unter panamaischer Flagge fahrenden Schiffes  außerhalb des Territoriums eines Mitgliedstaates. Er war zunächst bei einem Arbeitgeber mit Sitz in den Niederlanden beschäftigt, später dann – bei Ausübung derselben Tätigkeit – bei einem Arbeitgeber mit Sitz in der Schweiz. Auch für diesen Zeitraum hielt der EuGH die niederländischen Rechtsvorschriften für anwendbar ( insofern also Wohnlandprinzip), da nach schweizerischem Recht möglicherweise nur eine freiwillige Versicherung in Frage kommen, die aber gegenüber einer Pflichtversicherung nachrangig sei (Art. 15 Abs. 2 VO 1408).

  • Urteil Aldewered 2 2 C-60/93 v. 29.6.1994.

Der Kläger, niederländischer Staatsangehöriger, wurde von einem Unternehmen in Deutschland  angestellt und unmittelbar danach nach Thailand entsandt. Im Zeitpunkt der Anstellung wohnte er in den Niederlanden; während der Arbeit in Thailand unterlag er den deutschen Rechtsvorschriften (§ 4 Viertes Buch Sozialgesetzbuch – SGB IV).Der EuGH hat entschieden, der bloße Umstand, dass der Arbeitnehmer eine Tätigkeit außerhalb eines Mitgliedstaates ausübe, reiche nicht aus, um die Anwendung der VO 1408 auszuschließen, wenn das Arbeitsverhältnis eine hinreichend enge Anknüpfung an das Gebiet der Gemeinschaft habe (Rdnr. 14). Im Konfliktfall zwischen einer möglichen Zuständigkeit des Wohnlandes (Niederlande) und dem Sitzstaat des den Kläger beschäftigenden Unternehmens (Deutschland) entscheidet sich der EuGH für die Zuständigkeit des Sitzstaates Deutschland, da die Rechtsvorschriften des Wohnlandes keine Anknüpfung an das Arbeitsverhältnis aufweisen (Rdnr. 24); er stützt sich hierbei auch auf Art. 14 Nr.2 lit. b) ii) VO 1408 (Vorrang des Sitzstaates, sofern die Arbeit nicht im Wohnstaat ausgeübt wird, Rdnr. 23) 3 3 Interessant ist, dass der EuGH hier nicht den Schlussanträgen des Generalanwaltes folgt. Dieser hatte vorgeschlagen, dem Kläger bis zu einer Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften durch den Gemeinschaftsgesetzgeber ein Wahlrecht - Zuständigkeit des Wohnstaates oder des Sitzstaates - einzuräumen (unter B. Stellungnahme sowie Leitsatz). .

  • Urteil Prodest 4 4 C-237/83 v.12.7.1984.

Das französische Zeitarbeitsunternehmen Prodest entsandte den belgische Staatsangehörigen van Robaeys, der in Frankreich wohnte, nach Nigeria und stellte für den Entsendungszeitraum einen Antrag auf Verbleiben van Robaeys in der französischen Sozialversicherung. Das französische Recht hatte es aber Zeitarbeitsunternehmen verboten, ausländische Arbeitnehmer anderen Unternehmen zur Verfügung zu stellen, wenn die Dienstleistung außerhalb Frankreichs erfolgen sollte. Daher lehnte die französische Behörde den Antrag auf Verbleiben im französischen Sozialsystem ab. Der EuGH hat festgestellt, auch ein derartiger Fall falle unter die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (Rdnr. 5) und die Ablehnung des Verbleibens in der französischen Sozialversicherung als eine nach Art. 7 Abs. 2 der VO(EWG) Nr. 1612/68 unzulässige Diskriminierung erklärt; daher müsse die französische Behörde die entsprechende Vorschrift im französischen Recht außer Acht lassen (Rdnr. 9 und Leitsatz).

 

 

3.2 Kollisionsnormen verhindern – auch – Normenmangel

Die Kollisionsnormen der Art. 11-15 VO 883 sind zwingendes Recht. Sie verhindern es in erster Linie, dass zwei (oder noch weitere) Mitgliedstaaten zuständig sind – mit allen dann denkbaren Problemen wie möglicher doppelter Beitragszahlung oder Streit über die Frage, welcher Mitgliedstaat für die Leistungen zuständig ist. Gleichzeitig sollen aber die Kollisionsnormen auch Normenmangel verhindern, also verhindern, dass keinerlei Schutz besteht 5 5 Hierzu näher Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, 7. Aufl. 2018, S. 114 ff. . Voraussetzung ist zunächst, dass der Arbeitnehmer in den persönlichen Anwendungsbereich der VO 883 fällt (Art. 2 VO 883). Es muss aber eine „hinreichend enge Verbindung“ zu einem Mitgliedstaat bestehen – und zwar durch den Wohnsitz der betreffenden Person in einem Mitgliedstaat und den Sitz des beschäftigenden Unternehmens in einem Mitgliedstaat.

3.3 Wohnlandprinzip oder Sitzstaatsprinzip?

Grundsätzlich sind in den Fällen, in denen es sich um eine Beschäftigung außerhalb  des Unionsgebietes handelt und eine hinreichend enge Anknüpfung an das Unionsgebiet besteht, zwei Möglichkeiten denkbar: Entweder sind die Rechtsvorschriften des Staates anwendbar, in denen der Arbeitgeber seinen Sitz hat (Sitzstaatsprinzip) oder aber die Rechtsvorschriften des Staates, in dem der Arbeitnehmer seinen Wohnsitz hat (Wohnlandprinzip). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Interpretation des Art. 11 Abs. 3 lit. e) VO 883. Der EuGH hat sich zu Recht für eine weite Interpretation dieser Vorschrift entschieden, also gegen eine Anwendung dieser Vorschrift lediglich auf Nicht-Erwerbstätige, damit hat er sich im Ergebnis für das Wohnlandprinzip entschieden. Insoweit wird auf die Erläuterungen in den Rdnrn. 37-42 des Urteils und insbesondere auf die Rdnrn. 17-60 der Schlussanträge des Generalanwaltes verwiesen. In diesem Zusammenhang soll kurz auf die Entstehung des Art. 11 Abs. 3 lit. e) VO 883 eingegangen werden. Diese Vorschrift ersetzt den früheren Art. 13 Abs. 2 lit. f) VO 1408. Mit ihr sollten die sich aus dem Urteil ten Holder 6 6 C-302/84 v.12.6.1986. ergebenden Konsequenzen korrigiert werden. Der EuGH hatte entschieden, dass ten Holder, die zuletzt in Deutschland gearbeitet hatte, hier krank geworden war und in der Zeit des Bezugs von Krankengeld in die Niederlande gezogen war, aufgrund des Krankengeldbezugs weiterhin den deutschen Rechtsvorschriften unterlag und mithin keine Leistung aus der niederländischen Arbeitsunfähigkeitsversicherung erhalten hat. Auf diese Leistung hätte sie Anspruch gehabt, wenn sie nicht deutsches Krankengeld bezogen hätte. Dieses – wenig freizügigkeitsfördernde – Urteil sollte durch Art. 13 Abs 2 lit. f) VO 1408 korrigiert werden. Diese Vorschrift wurde später durch Art. 11 Abs. 3 lit. e) VO 883 – in allerdings deutlich verkürzter Form – ersetzt. Diese Kürzung diente lediglich der „Verschlankung“, inhaltliche Änderungen waren damit nicht beabsichtigt. Weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn der Vorschrift ist eine Beschränkung des Anwendungsbereichs auf Nicht-Erwerbstätige erkennbar. Auch aus dem Leitfaden der Kommission zum anwendbaren Recht 7 7 Abgedruckt in DRV (Hg.), Soziale Sicherhit in Europa – Rentenversicherung, 3. Aufl. 2016, S. 713, 766. Für eine Anwendung ausschließlich auf Nicht-Erwerbstätige aber offenbar Steinmeyer in Fuchs (Hg.), Europäisches Sozialrecht 7. Aufl. 2018, S.225. ergibt sich keine ausschließliche Anwendung auf Nicht-Erwerbstätige; allerdings hat die Kommission im Verfahren offenbar diese Auffassung vertreten (Rdnr. 18 der Schlussanträge des Generalanwaltes).

3.4 Näheres zum Wohnlandprinzip

Die Entscheidung des EuGH für eine weite Auslegung des Art. 13 Abs.3 lit f VO 883 – und damit für den Vorrang des Wohnlandprinzips vor dem Sitzlandprinzip 8 8 Hierzu näher Steinmeyer (Fn. 7) S.244-247. – entspricht auch dem Grundgedanken des Art. 13 Abs. 1 lit. a) VO 883. Sie trägt gleichzeitig dem – mutmaßlichen – Willen der Betroffenen Rechnung. Mit dem eigenen System ist man vertraut und fühlt sich ihm verbunden. Gleichzeitig werden mögliche Schwierigkeiten, die sich – trotz aller Koordinierungsbestimmungen – durch die Zugehörigkeit zu einem weiteren System (u.a. sprachliche Probleme, mangelnde Kenntnisse des anderen Systems, Probleme bei der Geltendmachung der Rechte) ergeben, vermieden.

Zurück zum konkreten Fall: Was bedeutet hier die Anwendung der lettischen Rechtsvorschriften? Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates und Bestehen einer Pflichtversicherung sind keineswegs identisch. Jeder Mitgliedstaat bestimmt in eigener Verantwortung, unter welchen Voraussetzungen eine Pflichtversicherung besteht 9 9 Ständige Rechtsprechung, vgl. etwa C-451/17 v. 25.10.2018 m.w.N. . Der EuGH hat sich dazu, welche Konsequenzen  die Anwendung der lettischen Rechtsvorschriften im zu entscheidenden Fall hat, nur sehr kurz geäußert (Rdnrn. 43-47) und ausgeführt, aus den ihm vorgelegten Akten ergebe sich nicht, dass das lettische Recht den Kläger ohne sozialen Schutz lasse 10 10 Der Generalanwalt hat hierzu leider überhaupt nichts gesagt. . Das ist sicherlich ein Schwachpunkt des Urteils. Allerdings ist die lapidare Kürze insofern nachvollziehbar, als der EuGH in Vorabentscheidungsersuchen nur die ihm vorgelegten Fragen beantwortet 11 11 Hierzu Borchardt in Fuchs (vgl. Fn. 7), S. 1004-1008. , den Fall aber nicht selbst entscheidet. Vielleicht wäre es nützlich gewesen, wenn das vorlegende Gericht seine Fragen (wiedergegeben in Rdnr. 18) noch etwas näher  konkretisiert hätte. Aus den MISSOC-Tabellen 12 12 Stand 1.1.2021, Rubrik VI. Alter. Anwendungsbereich. . ergeben sich keine näheren Informationen darüber, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen das lettische Recht eine Pflichtversicherung bei Beschäftigung  außerhalb des Territoriums eines Mitgliedstaates vorsieht bzw. ermöglicht; jedenfalls ist aber eine freiwillige Versicherung möglich. Der EuGH hätte sich – wenn nach lettischem Recht in derartigen Fällen nur eine freiwillige Versicherung (mit vermutlich deutlich geringeren Rechten) möglich sein sollte – zu der Frage äußern können, ob dann nicht doch die Pflichtversicherung nach niederländischem Recht vorrangig ist (entsprechend dem Urteil Kik, dazu s. Abschn. 3.1). Immerhin hat der EuGH auch in diesem Fall ausdrücklich betont, die Kollisionsnormen der VO 883  sollten auch verhindern, dass Personen, die in ihren Geltungsbereich fallen, der soziale Schutz vorenthalten wird (Rdnr. 33); damit hat er zu verstehen gegeben, dass ihm die Frage, welchen sozialen Schutz der Kläger in der maßgeblichen Zeit hat, keinesfalls gleichgültig ist 13 13 Auch zu dieser Frage hat sich der Generalanwalt leider nicht geäußert. . Mangels näherer Informationen über das lettische Recht muss diese Frage hier offen bleiben. Es bleibt aber ein gewisses Unbehagen.

3.5 Einige Varianten

Wie wäre der Fall zu entscheiden, wenn der Arbeitgeber des Klägers nicht ein niederländisches Unternehmen wäre, sondern das Unternehmen seinen Sitz in einem Drittstaat – also außerhalb der Union, außerhalb der EWR-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein und außerhalb der Schweiz – hätte? In diesem Fall hätte das Arbeitsverhältnis keinen hinreichend engen Bezug zum Gebiet der Union. Allein der Wohnsitz des Arbeitnehmers in einem Mitgliedstaat kann nicht zur Anwendung der Kollisionsregelungen des Unionsrechts führen – hier stößt das Unionsrecht an seine Grenzen.

Wie wäre der Fall zu entscheiden, wenn – ceteribus  paribus – der Kläger nicht lettischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Lettland, sondern deutscher Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Deutschland wäre?

Die kollisionsrechtlichen Ausführungen des EuGH wären – natürlich – identisch. Anwendbar wäre also das deutsche Recht. Nach § 2 Abs. 3 SGB IV werden deutsche Seeleute, die auf einem Schiff beschäftigt sind, das nicht zur Führung der Bundesflagge berechtigt ist, auf Antrag des Reeders  in der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung und – unter besonderen Voraussetzungen – in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Der niederländische Reeder wird aber schon aus Kostengründen einen solchen Antrag nicht stellen. Ein deutscher Reeder eines Seeschiffes, das in seinem überwiegenden wirtschaftlichen Eigentum steht, ist verpflichtet, einen derartigen Antrag zu stellen (§ 2 Abs. 3 Satz 2 SGB IV) – diese Voraussetzungen sind hier aber nicht erfüllt. Fraglich erscheint es aber, ob diese Vorschrift die „europäische Nagelprobe“ bestehen würde. In jedem Fall aber ist der Seemann zur freiwilligen Versicherung in der Rentenversicherung berechtigt (§ 7 Abs. 1 SGB VI). Aber auch dann würde sich doch wiederum die Frage einer Vorrangigkeit der niederländischen Pflichtversicherung stellen, da diese einen deutlich weitergehenden Schutz bietet (vgl. Abschn. 3.4).

Nach Art. 2 VO 883 sind Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten als Deutschland mit Wohnsitz in Deutschland wie Deutsche zu behandeln. § 2 Abs. 3 SGB IV ist dementsprechend erweiternd auszulegen 14 14 Pade in: jurisPK-SGB IV, 3. Aufl. (online, Stand 1.3.2016), § 2 Rdnr. 28. .

4. Exkurs

Im vorliegenden Fall ist es unstreitig, dass der Kläger seinen Wohnsitz in Lettland hat. Da aber die Frage des Wohnsitzes in vielen  Fallkonstellationen – insbesondere des Deutsch-Polnischen Sozialversicherungsabkommens von 1975 über Renten- und Unfallversicherung (DPRA 1975) und des Deutsch- Polnischen Abkommens über soziale Sicherheit von 1990 (DPSVA 1990) – von zentraler Bedeutung ist, sei hier noch kurz darauf eingegangen Das im DPRA 1975 enthaltene Eingliederungsprinzip wurde durch das im  DPSVA 1990 enthaltene Exportprinzip abgelöst. Nach Art. 27 Abs. 2 DPSVA 1990 werden die bis zum 1.1.1991 nach dem DPRA 1975 erworbenen Ansprüche nicht berührt, solange die Begünstigten ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaates beibehalten. Entscheidend ist also die Feststellung, in welchem Staat sich der Wohnsiz des Berechtigten befindet. Hierzu das EuGH-Urteil Wencel 15 15 C-589/10 v. 16.5.2013. : Wencel pendelte wiederholt zwischen Polen und Deutschland und besuchte regelmäßig ihren in Deutschland beschäftigten und wohnenden Mann, war jedoch nur in Polen beschäftigt. Der EuGH hat auf die „Gewöhnlichkeit“ des Aufenthaltes abgestellt und entschieden, eine Person wohne dort, wo sich der gewöhnliche Mittelpunkt ihrer Interessen befinde (Rdnr. 49,50), und hierbei auf seine frühere Rechtsprechung sowie auf die in Art. 11 Abs. 1 VO(EG) Nr. 987/2009 aufgeführten Kriterien (die überwiegend auf der Rechtsprechung des EuGH beruhen) verwiesen und ausgeschlossen, dass eine Person ihren Wohnsitz in zwei Mitgliedstaaten habe (Rdnr. 51). Im konkreten Fall hat es der EuGH dem vorlegenden Gericht überlassen, den Wohnsitz der Klägerin zu ermitteln (Rdnrn. 52-55) 16 16 Hierzu ausführlich und dem Urteil zustimmend Roßbach, Skowron-Kadayer, Neues zur Rechtsprechung zu Wechselwirkungen zwischen dem deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen und europarechtlichen Regelungen, DRV 2021, 129, 133-135. .

Ergänzend sei in diesem Zusammenhang auf das Urteil des BSG B 13 R/27/13 R 17 17 V. 16.6.2015. . verwiesen. In diesem Urteil hat das BSG entschieden, Art. 27 DPSVA 1990 sei so auszulegen, dass eine vor dem 1.1.1991 aus Polen nach Deutschland übergesiedelte Person, die zeitweilig in einen anderen Mitgliedstaat (hier die Niederlande) gezogen sei, in Deutschland aber ihren Wohnsitz beibehalten habe und später wieder nach Deutschland gezogen sei, hinsichtlich ihrer Rentenansprüche so zu behandeln sei, als habe sie ihren Wohnort in Deutschland beibehalten (insbes. Rdnrn. 24 und 25) 18 18 Zustimmend Roßbach, Skowron-Kadayer (vgl. Fn.16) S. 129, 139-141. . Hier wird also der Anknüpfungspunkt Wohnort (in Deutschland) – europakonform 19 19 Rdnrn. 20-25 des Urteils. . und dem Grundgedanken des dem DPRA 1975 folgenden Eingliederungsprinzips Rechnung tragend –  durch den Anknüpfungspunkt Beschäftigung (in Deutschland) substituiert; der Anwendungsbereich des DPSVA 1990 wird also erweitert.

5. Resümee

Das Urteil verdeutlicht einmal mehr die Bedeutung des sozialen Schutzes – auch in besonderen Fallkonstellationen. Die Kollisionsnormen des Unionsrechts sollen auch Normenmangel verhindern – der Arbeitnehmer soll nach Möglichkeit nicht ohne sozialen Schutz bleiben. Dazu dient die Bestimmung des anwendbaren Rechts, die sich u.a. nach dem Wohnsitz oder einer Integration in ein Sozialversicherungssystem richtet.

In den Fällen, in denen eine Beschäftigung in einem Drittstaat eine enge Anknüpfung an das Gebiet der Union hat – also sowohl der Sitz des Unternehmens als auch der Wohnsitz des Arbeitnehmers sich in einem Mitgliedstaat befinden – gelten nach Art. 11 Abs. 3 lit. f) VO 883 die Rechtsvorschriften des Wohnstaates

Unbefriedigende Ergebnisse kann das Wohnlandprinzip dann haben, wenn die Rechtsvorschriften des Wohnstaates keinen oder nur einen deutlich geringeren Schutz bieten als die Rechtsvorschriften des Sitzstaates des Unternehmens. Derartige Ergebnisse sollten nach Möglichkeit verhindert werden. In erster Linie ist das wohl Sache des Verordnungsgebers. Es könnte sich aber auch empfehlen, dass Gerichte, die in Zukunft mit einer entsprechenden Problematik befasst sind, einen Vorlagebeschluss erlassen, um dem EuGH Gelegenheit zur Präzisierung seiner Rechtsprechung zu geben.

 

RVaktuell 3/2021
Im Rahmen des jährlichen Rückblicks der RVaktuell auf die Rechtsprechung des vergangenen Kalenderjahrs stellt der Artikel ausgewählte Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) mit Bezug zum Renten- und Verfahrensrecht vor. Weitere Artikel zu wichtigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des BSG mit verfassungsrechtlichem Bezug sowie über Entscheidungen zum Versicherungs- und Beitragsrecht sowie zum Europa- und Auslandsrecht folgen in den nächsten Ausgaben.

Jetzt lesen

Wir verwenden Cookies, um Ihnen die Inhalte und Funktionen der Website bestmöglich anzubieten. Darüber hinaus verwenden wir Cookies zur Analyse. Weiterführende Informationen erhalten Sie in unseren Datenschutzhinweisen.