Relevanz des Konstruktes „Beruf“ in der Gesundheits- und Sozialforschung
Hierzu gab zunächst Dr. Morten Wahrendorf vom Institut für Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Düsseldorf eine Übersicht über theoretische Zusammenhänge zwischen Beruf und Gesundheit. Er führte an, dass neben Arbeitslosigkeit auch Berufe mit hohen physischen und/oder psychischen Belastungen schädlich für die Gesundheit seien. Mit Hilfe zweier in der Forschung weit verbreiteter Modelle („Anforderungs-Kontroll-Modell“ und „Effort-Reward-Imbalance-Modell“) zeigte er, dass insbesondere Personen in niedrig qualifizierten Berufen, in manuellen Berufen und prekär Beschäftigte beruflich bedingten Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind.
Dr. Andreas Haupt vom Institut für Soziologie, Medien- und Kulturwissenschaften am Karlsruher Institut für Technologie ging im Anschluss darauf ein, in welchem Zusammenhang Berufe mit sozialer Ungleichheit stehen. Er führte an, dass es auf der einen Seite Ungleichheiten in Bezug auf den Zugang zu Berufen gebe und auf der anderen Seite Berufe Einfluss haben auf die ungleiche Verteilung von Risiken und Ressourcen. Als Ressourcen werden neben monetären Leistungen auch Status, Zeit und Lebenszufriedenheit betrachtet. Risiken sind neben den bereits erwähnten Gesundheitsrisiken auch eine geringere Lebenserwartung, ungewünschte Teilzeit und die Substitution bestimmter Berufe durch neue Technologien und Automatisierung. Der Zugang zu Berufen werde vor allem bedingt durch das Geschlecht (typische „Männer-“ oder „Frauenberufe“), die geografische Herkunft (z. B. Anerkennung von ausländischen Abschlüssen) und durch Einstellungen/Werte.
Erfassung von Berufen in Prozess- und Umfragedaten
Wiebke Paulus vom Bereich Statistik der Bundesagentur für Arbeit stellte die von ihr mit entwickelte Klassifikation der Berufe (KldB) 2010 vor. Im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen (KldB 1988, KldB 1992), die auf einer Grundlage aus den sechziger Jahren basierten, wurde die Grundstruktur der KldB 2010 auf der Grundlage empirischer Ergebnisse einer Clusteranalyse entwickelt. Somit wurde eine einheitliche nationale Berufsklassifikation geschaffen, die mit der Berufsfachlichkeit und dem Anforderungsniveau zwei voneinander abgegrenzte Dimensionen umfasst und mit internationalen Klassifikationen (ISCO 88, ISCO 08) kompatibel ist. Die zusätzliche Entwicklung von 14 Berufssegmenten und fünf Berufssektoren bietet der empirischen Berufsforschung sinnvolle Aggregate der Klassifikation an.
Gregor Lampel vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) stellte im Anschluss die teilautomatisierte Codierung von offenen Berufsangaben aus Bevölkerungsumfragen im LIfBi-FDZ vor. Diese erfolgt mittels eines eigens hierfür entwickelten Codiertools, das die Verarbeitung unterschiedlicher Ziel- und Ausgangsvariablen, darunter auch komplexe Klassifikationen wie die KldB, ermöglicht. Das Tool unterstützt die Codierer durch die Bereitstellung von Zusatzinformationen und Codier-Vorschlägen basierend auf verschiedenen Vorschlagsalgorithmen. Aktuell wird dieses Tool bereits LIfBi-intern genutzt, perspektivisch soll es für die Wissenschaft geöffnet werden.
Berufe und deren Klassifikationen in der Forschungspraxis – Herausforderungen und Lösungsansätze
Am zweiten Tag der Veranstaltung lag der Fokus auf konkreten Forschungsprojekten, die verschiedene Berufsklassifikationen zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen nutzen oder (weiter-)entwickeln.
Zunächst berichtete Dr. Natalie Laub vom Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung über ihre Forschung zu Gründen und Auswirkungen fehlender Angaben des Tätigkeitsschlüssels in Rentenversicherungsdaten. Ihre Analysen zeigen, dass das unplausible Fehlen von Tätigkeitsinformationen zum einen durch die Umstellung auf die KldB 2010 bedingt ist, zum anderen aber auch abhängig ist von den Beschäftigungsbranchen und der Stabilität des Erwerbsverlaufs.
Robert Herter-Eschweiler vom Statistischen Bundesamt stellte die „Spezifikation der Blossfeld-Berufsklassifikation auf Basis der KldB2010“ vor. Diese in der Forschung häufig verwendete Klassifikation basiert auf der KldB1970 und wurde mit der Zeit für die KldB1988 und KldB1992 adaptiert. Mit der Neusystematisierung der Berufe in der KldB2010 musste auch die Adaption für den neuen Standard neu gedacht werden. Das erfolgte über eine Quasi-Doppelerfassung der Berufe im Mikrozensus 2012 (nach KldB2010 und nach KldB1992). Mit Hilfe eines zweistufigen Prozesses konnte eine sehr gute Übereinstimmung der Zuordnungen zwischen der Blossfeld-Klassifikation und den jeweiligen Versionen der KldB erreicht werden, die für einfache bivariate Analysen hinreichend valide zu sein scheint. Eine Untersuchung der Validität für multivariate Analysen sowie eine Veröffentlichung eines Umsteigeschlüssels stehen noch aus.
Eine vollständig neu entwickelte Prestigeskala stellten Dr. Daniela Rohrbach-Schmidt vom Bundesinstitut für Berufsbildung und Prof. Dr. Christian Ebner von der TU Braunschweig vor. Sie führten zunächst an, dass berufliches Prestige als symbolische Ressource ein relevantes Konstrukt für die Analyse von Ungleichheiten sei. Da es bisher jedoch keine Skala für Gesamtdeutschland und auf Basis der aktuellen Klassifikation der Berufe gebe, wurde eine solche auf Basis einer Zusatzbefragung im Rahmen der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 entwickelt. Die Skala wird zeitnah im BIBB-FDZ und in einem Forschungsdatenrepositorium (GESIS-Datorium) zum Download angeboten werden.
Dr. Marco Streibelt von der Deutschen Rentenversicherung Bund stellte im Anschluss den Risikoindex Erwerbsminderungsrente (RI-EMR) vor und ging dabei auf die Frage ein, ob es Berufsgruppen gibt, die besonders erwerbsminderungsgefährdet sind. Der Index identifiziert anhand ausgewählter Merkmale aus dem Rentenversicherungskonto diejenigen, die besonders gefährdet sind, eine Erwerbsminderungsrente zu beziehen. Durch eine Implementierung in die Routinestatistik der Deutschen Rentenversicherung kann der Index für Analysen unterschiedlicher Art verwendet werden. Bezogen auf das Anforderungsniveau von Berufen zeigte sich ein „negativ-linearer“ Zusammenhang: Personen in Berufen mit niedrigem Anforderungsniveau wiesen höhere Indexwerte auf. Bei Betrachtung von Berufssegmenten zeigte sich, dass insbesondere Personen in Reinigungs-, Sicherheits-, Lebensmittel- und Gastgewerbeberufen erhöhte Indexwerte aufweisen.
Ebenfalls auf Basis von Routinedaten der Deutschen Rentenversicherung präsentierte Martin Brünger vom Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité die Ergebnisse seiner Analysen mit der Fragestellung „Die Berufstätigkeit als Proxy für Arbeitsbelastungen von Rehabilitand:innen?“. Hierzu wandte er die von Kroll (2011) entwickelten Job-Exposure-Matrizen (JEM) auf die Reha-Verlaufsstatistik an und konnte zeigen, dass Rehabilitandinnen und Rehabilitanden im Vergleich zur gleichaltrigen Kontrollgruppe verstärkt hohen Arbeitsbelastungen ausgesetzt sind. Auch in Bezug auf Return-to-Work Prognose und sozialmedizinischen Verlauf zeigte sich, wie angenommen, dass in Berufen mit erhöhter Arbeitsbelastung die Chancen, nach der Rehabilitation wieder dauerhaft im Erwerbsleben Fuß zu fassen, geringer ausfallen als in Berufen mit niedriger Arbeitsbelastung.
Dr. Marvin Reuter vom Institut für Medizinische Soziologie des Universitätsklinikums Düsseldorf stellte Analysen zum Thema „Betroffenheit von Berufsgruppen von den gesundheitlichen Folgen der COVID-19-Pandemie“ vor. Basierend auf einer Sonderbefragung der NAKO-Gesundheitsstudie im April und November 2020 konnte er zeigen, dass, wie erwartet, Infektionsrisiken insbesondere in personenbezogenen und systemrelevanten Berufen wie Gesundheits-, Reinigungs- und Sicherheitsberufen erhöht sind.
Zum Abschluss stellte Katharina Werhan vom FDZ-RV eine Analyse von Erwerbsminderungsrisiken vor, erstmals basierend auf verknüpften Daten von Erwerbsminderungs-Rentenzugängen und aktiv Versicherten. Auf Basis dieser neuen Daten konnte gezeigt werden, dass Personen in Berufen mit niedrigem Anforderungsniveau (Kldb2010), hoher Arbeitsbelastung (Job Exposure Matrizen) und hohem Risiko-Erwerbminderungs-Index (RI-EMR) ein erhöhtes Risiko haben, eine Erwerbsminderungsrente zu beziehen.
Angeregt durch die qualitativ-hochwertigen, interdisziplinären Vorträge fanden intensive Diskussionen statt, und es wurde deutlich, dass die Erfassung und Nutzung von Berufen in Analysen alle Forschenden gleichsam vor Herausforderungen stellen. Die Tagung zeigte jedoch, dass es unter den Teilnehmenden eine hohe Bereitschaft zu künftiger Vernetzung und Zusammenarbeit gibt, um diesen Herausforderungen zu begegnen.