Rechtliche Auswirkungen der Pandemie
Der Präsident des BSG Prof. Dr. Rainer Schlegel, eröffnete die Veranstaltung und verwies u.a. darauf, wie sich das gesellschaftliche Leben und die Arbeitswelt, durch die Pandemie verändert habe und das die Veränderungen auch vor dem BSG nicht Halt gemacht hätten. Die Grußworte sprachen die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Arbeit und Soziales, Anette Kramme, und der Oberbürgermeister der Stadt Kassel, Christian Geselle.
Den Eröffnungsvortrag hielt der Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BverfG), Prof. Dr. Stephan Harbarth. Er ging auf die 70-jährige Geschichte des BVerfG und die von diesem geprägten verfassungsrechtlichen Leitlinien des sozialen Rechtsstaats ein. Außerdem betonte er die Bedeutung des Sozial- und Rechtsstaats in der Krise und erläuterte beispielhaft die Wechselwirkungen zwischen Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip. Anhand von Beispielen verdeutlichte er u.a., dass das Sozialrecht in seinem Wandel die jeweiligen Veränderungen in den wirtschaftlichen Voraussetzungen in der Bundesrepublik widerspiegelte.
Prof. Dr. Beate Jochimsen, Professorin für allgemeine Volkswirtschaftslehre und Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, beleuchtete in ihrem Vortrag „Daten teilen, besser heilen – Datenschutz und Digitalisierung im Gesundheitswesen“ den individuellen und gesellschaftlichen Nutzen der Erfassung von Gesundheitsdaten einerseits und die datenschutzrechtlichen Hürden anderseits. Die derzeitige Fokussierung auf die informationelle Selbstbestimmung führe aus ihrer Sicht zu einer Vernachlässigung anderer Aspekte, u.a. der Datensicherheit. Auch werde das Recht auf Verwendung der individuellen Daten zum eigenen oder gesellschaftlichen Nutzen dadurch beschränkt. Im Rahmen der Digitalisierung sei auch darauf zu achten, dass sozioökonomische Bevölkerungsgruppen in gleichem Maße an der Digitalisierung teilhaben. Ansonsten sei künftig nicht nur der Versorgungsnutzen sozial ungleich verteilt, sondern es werde dann auch potenziell mit nicht repräsentativen Daten geforscht.
Die Herausforderungen der Pandemie für die gesetzliche Krankenkassen standen im Mittelpunkt des Vortrags „GKV und Pandemie“ von Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands. Sie stellte dar, dass die gesetzliche Krankenversicherung (KV) unter den Bedingungen der Pandemie leistungsfähig und flexibel auf sich kurzfristig veränderte Handlungsbedarfe zur Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung reagiert habe. Drastische Versorgungsengpässe konnten vermieden werden und die Versorgung von Covid 19-Erkrankten war selbst in Phasen mit hohen Infektionszahlen gewährleistet. Sie ging weiterhin darauf ein, dass sich bevölkerungsschutzrechtliche und sozialrechtliche Aufgaben zwar immer ergänzt haben, aber zeitweise nicht klar voneinander getrennt wurden. So nutzte die staatliche Seite u.a. die Organisationsstrukturen der KV im Rahmen des Bevölkerungsschutzes, z. B. bei der Abgabe von Schutzmasken. Der Bund sei seiner Finanzierungsverantwortung erst spät nachgekommen – ein vollständiger Ausgleich der entstandenen Pandemieausgaben stehe noch aus. Sie ging auch darauf ein, dass durch die Pandemie bereits bestehende Defizite in der Versorgung durch die gesetzliche KV verstärkt offengelegt und der dringende Reformbedarf aufgezeigt wurde.
Zweiter Tag
Am zweiten Tagungstag vervollständigte Uwe Lübking, Beigeordneter beim Deutschen Städte- und Gemeindebund, mit dem Thema „Lehre aus der Corona-Pandemie: Soziale Daseinsvorsorge vor Ort stärken“ den Blick auf Pandemiefolgen aus kommunaler Sicht. Er verdeutlichte, dass die soziale Daseinsvorsorge eine zentrale kommunale Aufgabe nicht nur in der Pandemie sei. Damit sie wirkungskräftig gestaltet werden kann, sei eine klare Aufgabenverteilung zwischen dem Bund, den Ländern und Kommunen und eine längerfristige Finanzierungssicherheit nötig – daran fehle es aber vielfach. Grundsätzlich habe der Sozialstaat in der Pandemie jedoch seine Stärke bewiesen. Die Pandemie habe aber auch die Bedeutung der örtlichen Angebots- und Versorgungsstrukturen aufgezeigt. Die kommunalen Ebene müsse zur Aufrechterhaltung ihrer Aufgabe der Daseinsvorsorge gestärkt werden. Dafür bräuchten die Kommunen ausreichende finanzielle Mittel und flexible Handlungspielräume. Notwendig sei auch, dass im Bereich der sozialen Daseinsvorsorge die Digitalisierung vorangetrieben werde.
Bevor die Vizepräsidentin des BSG, Dr. Miriam Meßling, die Tagung beendete, hielt die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Inken Gallner, einen Vortrag zum Thema „Recht in Europa“. Sie ging dabei auf die erstmalige „ultra-vires-Feststellung“ des BVerfG aus dem Jahr 2020 ein, d.h., auf den Vorwurf, der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) habe seine Kompetenzen überschritten. Das Vertragsverletzungsverfahren, das aufgrund dieses Urteils gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet worden war, sei im Dezember 2021 eingestellt worden. Wichtig sei aus Sicht von Gallner, ein kooperatives Verhältnis zwischen dem EuGH sowie den Verfassungs- und Höchstgerichten und allen Gerichten der Mitgliedsstaaten. Da die europäische Rechtsgemeinschaft nicht von einem Nationalstaat getragen werde, ist es aus Sicht von Gallner essenziell, dass der EUGH, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die nationalen Verfassungsgerichte und alle Gerichte der Mitgliedstaaten ihre Kräfte bündeln, um die europäische Rechtsgemeinschaft vor autoritären Angriffen von innen und außen zu schützen. Art. 267 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ermögliche innerhalb der Europäischen Union einen Dialog von Gericht zu Gericht zwischen dem EuGH und den Gerichten der Mitgliedstaaten.
Neben den Diskussionen zum Tagungsthema „Corona-Pandemie: Rechtsstaat, Sozialstaat“ wurde die 54. Richterwoche wieder zum regen Austausch zwischen den Richterinnen und Richtern der Sozialgerichtsbarkeit, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sowie Vertreterinnen und Vertreter von Sozialversicherungsträgern, Behörden, Kommunen, Politik und Wissenschaft genutzt. Die Arbeitsgemeinschaften der Fachsenate des Gerichts fanden aufgrund des verkürzten Formats dieses Mal nicht statt.